Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. Maerz 1995 - BVerwG 9 B 747.94

Bundesverwaltungsgericht, 24 March 1995

Leitsätze (amtlich):

1.         Eine Verfolgung durch private Dritte ist dem gebletsmächtigen Staat, der dem Verfolgten keinen Schutz gewährt, auch dann zuzurechnen, wenn es sich bei den Verfolgern um gesellschaftlich mächtige Gruppen handelt, die der Staat im Interesse des inneren Friedens oder des Machterhalts nicht gegen sich aufbringen will.

2.         Es verstößt nicht gegen das Erfordernis grundsätzlich generalisierender Betrachtung, wenn die Erlangung des wirtschaftlichen Existenzminimums am Ort der inländischen Fluchtalternative für einen zuvor in der Landwirtschaft Tätigen verneint wird, weil die in Frage kommenden Arbeitsplätze bereits von den durchweg ebenfalls unausgebildeten - Zuwanderern aus seinem Heimatgebiet (hier: syrisch-orthodoxe Christen aus der Südost-Türkei) besetzt sind.

Aus den Gründen:

Das Berufungsgericht hat die für die Südostregion der Türkei festgestellte Verfolgung der Gruppe der - dort noch lebenden - syrisch-orthodoxen Christen durch radikale Moslems, Großgrundbesitzer und von diesen bestochene Dorfschützer dem türkischen Staat zugerechnet. Dieser verfüge trotz des sich intensivierenden Kampfes gegen die PKK auch in der Südost-Türkei über die Gebietshoheit und sei in der Lage, den staatlichen Ordnungsanspruch durchzusetzen. Er sei aber nicht bereit, den syrisch-orthodoxen Christen Schutz zu gewähren; so verfolge er beispielsweise ihm angezeigte Verbrechen an Christen nicht ernsthaft.

Nach Ansicht der Beschwerde hat das Berufungsgericht trotz der mehrmaligen Bezugnahme auf das Urteil des OVG Lüneburg vom 27.1.1994 - 11 L 133/92 - (DVBl. 1994, 545 - nur Ls. -) in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils eine Auseinandersetzung mit der Feststellung dieses Gerichts zum Grund für die staatliche Schutzversagung unterlassen. Das OVG Lüneburg habe nämlich festgestellt, daß die türkische Regierung befürchte, durch ein Einschreiten zugunsten der wenigen Christen könne sie die für ihren Machterhalt in Südost-Anatolien unverzichtbare, ohnehin begrenzte und bereits gefährdete Loyalität der Hisbollah, der Großgrundbesitzer und der Dorfschützer verlieren. Hieran anknüpfend erachtet die Beschwerde als rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig der Sache nach die Frage, ob auch eine Schutzversagung, zu der sich der Staat entschließt, um sein Machtmonopol und damit seine Fähigkeit zu erhalten, drohende innere Wirren und territoriale Abspaltung zu verhindern, die Zurechnung der Drittverfolgungsmaßnahmen begründet. Hierzu, so meint die Beschwerde weiter, hätte das Berufungsgericht den Sachverhalt näher aufklären und entsprechende Feststellungen treffen müssen.

Dieses Vorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Die von der Beschwerde genannte Frage würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen. Das Berufungsurteil enthält nicht die Feststellung, Grund für die Untätigkeit des türkischen Staates bei Übergriffen gegen syrisch-orthodoxe Christen sei sein Bestreben, den weitgehenden Zusammenbruch der staatlichen Macht in Südost-Anatolien, zu der es bei einem Einschreiten gegen Agas, Dorfschützer und fundamentalistische Gruppen kommen würde, zu vermeiden. Das Berufungsgericht hat als Grund für die unzureichende Aufklärung der an syrisch-orthodoxen Christen begangenen Straftaten durch den türkischen Staat ausdrücklich lediglich angegeben, dieser wolle etwaige Querverbindungen zwischen staatlichen Organen und der Hisbollah nicht sichtbar werden lassen. Der Auffassung der Beschwerde, das Berufungsgericht habe auch Furcht vor dem Verlust der Macht als Grund für die Passivität der Behörden durch Bezugnahme auf das Urteil des Niedersächsischen OVG vom 27.1.1994 (aaO) festgestellt, steht entgegen, daß sich eine derartige Bezugnahme zwar an mehreren Stellen des Berufungsurteils findet, aber gerade dort fehlt, wo das Berufungsgericht die Gründe für die Untätigkeit des türkischen Staates erörtert.

Im übrigen ist die aufgeworfene Frage auch nicht recktsgrundsätzlich klärungsbedürftig; sie ist vielmehr durch die Rechtsprechung des BVerwG geklärt. Nach dieser wird eine von nichtstaatlicher Seite. also insbesondere von Privatpersonen oder nichtstaatlichen Organisationen, ausgehende Verfolgung dem Staat zugerechnet, wenn er die Verfolgung billigt oder fördert, ferner, wenn er nicht willens oder - trotz vorhandener Gebietsgewalt nicht in der Lage ist, die Betroffenen gegen Übergriffe zu schützen (vgl. etwa BVerwGE 67, 317 = EZAR 202 Nr. 1, BVerwG, EZAR 202 Nr. 24). Dabei besteht die die Zurechenbarkeit begründende Schutzunfähigkeit oder Schutzunwilligkeit nicht bereits dann, wenn in dein zu beurteilenden Einzelfall effektiver staatlicher Schutz nicht geleistet worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre. Vielmehr sind Übergriffe Privater dein Staat als mittelbar staatliche Verfolgung nur dann zuzurechnen, wenn er gegen Verfolgungsmaßnahmen Privater grundsätzlich keinen effektiven Schutz leistet. Umgekehrt ist eine grundsätzliche Schutzbereitschaft zu bejahen, wenn Polizei- und Sicherheitsbehörden bei Übergriffen Privater zur Schutzgewährung ohne Ansehen der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch angehalten sind (vgl. BVerwG, EZAR 202 Nr. 24). Damit ist - auch - entschieden, daß ein über die Gebietsgewalt verfügender Staat, der Übergriffe Privater gegen eine bestimmte Personengruppe bewußt geschehen läßt, schutzunwillig ist und daß ihm diese Übergriffe zugerechnet werden. Auf die Motive und Überlegungen, die den Staat veranlassen, einem Teil seiner Staatsbürger den erforderlichen Schutz vorzuenthalten, kommt es nicht an. Zunächst ist es nicht notwendig, daß der Staat bei der Schutzversagung ebenfalls an die asylrechtlichen Merkmale anknüpft, deretwegen die Betroffenen bereits Opfer der privaten Übergriffe geworden waren (BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 20). Die erforderliche asylrechtliche Gerichtetheit ist vielmehr vorhanden, wenn entweder die Privaten bei Begehung der Übergriffe »wegen« des Persönlichkeitsmerkmals handeln oder bei unpolitischem Charakter der von den Privaten begangenen Übergriffe der Staat »wegen« asylrelevanter Persönlichkeitsmerkmale der Opfer den gebotenen Schutz versagt.

Ferner gebietet auch die - nach Ansicht der Beschwerde vom Berufungsgericht festgestellte - Machtkonstellation, aufgrund derer der türkische Staat in der Südost-Türkei auf die Unterstützung durch die Großgrundbesitzer, Dorfschützer und Hisbollah angewiesen ist, nicht, dem türkischen Staat seine Passivität gegenüber den Übergriffen dieser Gruppen auf die syrisch-orthodoxen Christen nachzusehen und ihm deshalb diese Übergriffe nicht als mittelbar staatliche Verfolgung zuzurechnen. Verfolgung entbehrt so lange nicht des staatlichen Charakters, als sie aus der staatlichen Gebietsgewalt erwächst; die mittelbar staatliche Verfolgung ist dadurch gekennzeichnet, daß der Staat die ihm kraft dieser Gebietsgewalt effektiv zur Verfügung stehenden strafrechtlichen, polizeirechtlichen und ordnungsrechtlichen Machtmittel nicht zum Schutz der Opfer privater Übergriffe einsetzt. Eine Verfolgung durch private Dritte ist mithin auch dann eine mittelbar staatliche, wenn dem Staat die genannten Machtmittel aufgrund seiner Gebietsgewalt zum Einsatz zwar zur Verfügung stehen, er sie aber nicht einsetzt, weil er wegen der bestehenden innenpolitischen Machtstrukturen auf bestimmte gesellschaftliche oder politische Gruppen Rücksicht nehmen will oder muß (BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163; BVerwGE 95, 42 = EZAR 230 Nr. 3).

Da es auf die Gründe, deretwegen der türkische Staat den syrisch-orthodoxen Christen den gebotenen Schutz gegen die Übergriffe der Agas, Dorfschützer und fundamentalistischen Gruppen versagt hat, für die Zurechnung dieser Verfolgungsmaßnahme nicht ankommt, brauchte das Berufungsgericht diese Gründe auch nicht aufzuklären; deshalb liegt auch die von der Beschwerde geltend gemachte Verletzung des § 86 Abs. 1 VwGO nicht vor.

Schließlich liegt in der Würdigung des Berufungsgerichts, der Kl. könne in den Großstädten der West- oder Südtürkei, falls er dorthin ausweiche, das für seinen Lebensunterhalt unbedingt Notwendige nicht finden, keine der Rechtsprechung des BVerwG widersprechende Auffassung von der Eignung einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Nach dieser Rechtsprechung ist es entscheidend, ob der von regionaler Verfolgung Bedrohte bei generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat. Das ist bei erwerbsfähigen Personen grundsätzlich der Fall, wenn es ihnen trotz Bereitschaft zur Ausübung auch wenig attraktiver Tätigkeiten selbst längerfristig nicht gelingen wird, ein Einkommen zu erzielen, das, mag es auch im unteren Bereich des am Ort der Fluchtalternative Üblichen liegen, das wirtschaftliche Überleben gewährleistet (vgl. BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 145).

Von diesem rechtlichen Ansatz ist auch das Berufungsgericht ausgegangen. Es hat eine reale Chance, daß der Kl. in der West- oder Südtürkei eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu finden vermag, nicht aus Gründen verneint, die ausschließlich in seiner Person wurzeln und deshalb nicht für syrisch-orthodoxe Christen aus dem Tur Abdin allgemein, sondern nur für ihn zutreffen. Das OVG hat vielmehr auf die allgemein schlechte Wirtschaftslage in der Türkei, auf die geringe Zahl freier Stellen für ungelernte Hilfskräfte, auf den überaus geringen, als Existenzminimum von vornherein nicht ausreichenden Lohn, der auf derartigen Arbeitsplätzen gezahlt wird, sowie auf die mehrere Hunderttausend Zuwanderer aus Ostanatolien, die seit einiger Zeit kontinuierlich auf den Arbeitsmarkt, insbesondere in Istanbul drängen, abgestellt. Weitere Gründe für die schlechten Aussichten des KI., in der West- oder Südtürkei seinen Lebensunterhalt zu finden, hat das Berufungsgericht darin gesehen, daß die Pelzindustrie bei Istanbul, in der bisher immer viele Bauern oder Landarbeiter aus Ostanatolien Arbeit gefunden hätten, weitgehend zum Erliegen gekommen sei, daß viele der christlichen Geschäftsinhaber und Handwerker in Istanbul, die in der Vergangenheit viele der aus Ostanatolien zuwandernden Glaubensgenossen eingestellt hätten, inzwischen nach Mittel- und Westeuropa ausgereist seien und die in Istanbul verbliebenen christlichen Arbeitgeber freie Stellen in ihren Betrieben an zuwandemde Mitglieder ihrer eigenen Familie vergäben. Auch die bei den syrisch-orthodoxen Christen allgemein verbreitete Unkenntnis der türkischen Sprache, deretwegen das Berufungsgericht den Kl. als ungeeignet für die Ausübung des Klein- und Straßenhandels angesehen hat, ist keine Einschränkung der Befälfigung und Verwendbarkeit speziell des KI., sondern der meisten der aus dem Tur Abdin zuwandernden syrisch-orthodoxen Christen. Zwar läßt sich dieser Eignungsmangel, wie die Beschwerde zutreffend geltend macht, beheben. Da der Kl. aber während der dafür notwendigen Zeit seinen Lebensunterhalt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auch auf andere Weise nicht erlangen kann, ist es nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht - auch -die mangelnde Beherrschung der türkischen Sprache als ein Hindernis für ein wirtschaftliches Überleben des Kl. in der Westtürkei angesehen hat.

Im Hinblick darauf, daß der Kl. nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts in der Westtürkei eine zureichende wirtschaftliche Lebensgrundlage nicht zu erlangen vermag, würde sich in dem vom Bundesbeauftragten angestrebten Revisionsverfahren auch nicht die nach Ansicht der Beschwerde gleichfalls rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftige Frage stellen, ob bei regional Verfolgten, die von der Landwirtschaft gelebt haben und denen im Zuge der Verfolgung das Ackerland und damit ihre Lebensgrundlage genommen worden ist, eine innerstaatliche Fluchtalternative überhaupt noch eine wirtschaftliche Überlebensmöglichkeit voraussetzt; in der Form, in der sie sich nur stellen würde, ist sie geklärt.

Der Kl. ist im Zuge der im Tur Abdin erlittenen Verfolgung nicht seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlage beraubt worden. Seine Verfolgung hat weder im Entzug der Lebensgrundlage noch in der Herbeiführung wirtschaftlicher Not auf sonstige Weise bestanden. Der Kl. hat eine Verfolgung dieser Art bereits nicht geltend gemacht. Die Verfolgung, von welcher - auch -. der Kl. betroffen war, hat nach den Feststellungen des OVG darin bestanden, daß gegen die syrisch-orthodoxen Christen »Drohungen und Gewalt gegen Leib, Leben und persönliche Freiheit (Entführung und Vergewaltigung von Frauen, Folter, Schläge und Mord)« angewandt worden sind. Zwar verfolgen die Großgrundbesitzer mit diesen Repressionen die Absicht, die syrisch-orthodoxen Christen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet zu vertreiben, um sich dann derer Ackerland aneignen zu können. Mittel zur Vertreibung sind aber die genannten Formen der Drohung und Gewalt gegen die Person; dem mittels dieser Drohungen und Gewalt erzeugten Druck, nicht einer von den Agas herbeigeführten wirtschaftlichen Notlage sehen sich danach die syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin ausgesetzt.

Das Berufungsgericht hat auch nicht festgestellt, daß als Folge der als Druckmittel ebenfalls angewandten »gewaltsamen Entziehung wirtschaftlicher Nutzungsrechte« die wirtschaftliche Lebensgrundlage im angestammten Siedlungsgebiet verloren worden ist. Soweit durch Vereitelung einer gewinnbringenden landwirtschaftlichen Nutzung wie Zerstörung der Bewässerungsanlage auf den Feldern oder Abholzen der Weinstöcke, Bestechung von Katasterbeamten und Einleiten von Rechtsstreitigkeiten wegen des Eigentums an Grundstücken die syrisch-orthodoxen Christen in ihrer beruflichen Betätigung als Landwirte verunsichert, behindert und geschädigt werden, sind das Nachteile, die von anderer Art sind als die am Ort der Fluchtalternative drohende wirtschaftliche Verelendung. Daß am Ort der angenommenen Fluchtalternative aber keine Nachteile und Gefahren drohen dürfen, die so am Herkunftsort nicht bestünden, ist durch die Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 80, 315, 343 ff. = EZAR 201 Nr. 20; BVerfGE 81, 58, 65 = EZAR 203 Nr. 5, vgl. auch BVerwG, EZAR 202 Nr. 25) geklärt.

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