Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 2. August 1983-BVerwG 9 C 599.81
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Date:
2 August 1983
Bundesverwaltungsgericht
2. August 1983
IM NAMEN DES VOLKES
In der Verwaltungsstreitsache
X gegen
die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister des Innern in Bonn, dieser vertreten durch den Leiter des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, 8502 Zirndorf, Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte, Beteiligter: Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Rothenburger Straße 29, 8502 Zirndorf, hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 2. August 1983 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Korbmacher und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paul, Sträter, Dr. Kemper und Dr. Bender
für Recht erkannt:
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. März 1981 wird aufgehoben.
Ferner werden das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 16. November 1978 und die Bescheide der Beklagten vom 6. Mai 1977 und 21. Dezember 1977 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe:
I.
Die Kläger sind türkische Staatsangehörige aramäischen Volkstums und syrisch-orthodexe Christen. Sie stammen aus der Stadt Midyat in der Provinz Mardin im Südosten der Türkei, dem Gebiet, das die dortigen Christen Tur Abdin (Berg des Gottesknechts) nennen. Die 1936 und 1949 geborenen Kläger zu 1) und 2) sind Eheleute. Die Kläger zu 3) bis 5) sind ihre minderjährigen Kinder. Die Kläger sini Ende September 1976 aus ihrer Heimat in die Bundesrepublik Deutschland gekemmen und haben hier Asyl beantragt.
Das Asylbegehren der Kläger blieb im Verwaltungsverfahren und in den gerichtlichen Vorinstanzen ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat im wesentlichen ausgeführt: Die Kläger seien in ihrer Heimatprovinz asylerheblich politisch verfolgt worden. Sie seien wegen ihrer christlichen Religion Gewalttaten seitens moslemischer Kurden ausgesetzt gewesen, die der türkische Staat nicht unterbunden und für die er daher einzustehen habe. Gleichwohl könnten die Kläger in der Bundesrepublik keine Anerkennung als Asylberechtigte finden. Anspruch auf Asyl habe nur, wer im gesamten Gebiet des Verfolgerstaates von Verfolgung bedroht sei. Könne der Verfolgte, dessen Verfolgurig auf einen Teil des Staatsgebietes beschränkt sei, in anderen Teilen Zuflucht suchen, so müsse er zunächst diese Möglichkeit ausnutzen. Für die Kläger bestehe in anderen Teilen der Türkei, insbesondere in Istanbul, eine inländische Fluchtalternative. Selbst wenn man davon ausgehe, daß diese auf Istanbul beschränkt sei, daß die Kläger dort nur schwer eine neue Heimat zu finden vermöchten und erheblichen Belastungen - nicht asylerheblicher Art - ausgesetzt seien, könne die inländische Fluchtalternative nicht zugunsten der Kläger verneint werden. Nachfluchtgründe lägen nicht vor.
Mit der Revision erstreben die Kläger weiterhin ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Sie wenden sich gegen die Annahme, daß das Vorhandensein einer inländischen Fluchtalternative der Asylgewährung entgegenstehe. Aber selbst bei der grundsätzlichen Anerkennung einer solchen inländischen Fluchtalternative, meinen sie, sei ihnen nach der schon einmal erlittenen Verfolgung in ihrer ursprünglichen Heimat im Südosten der Türkei nicht zumutbar, Zuflucht in Istanbul zu suchen. Sie seien dort nicht mit der vom Bundesverfassungsgericht für solcht Fälle geforderten hinreichenden Wahrscheinlichkeit vor erneuter Verfolgung sicher.
Die Beklagte hat sich in der Revisionsinstanz nicht geäußert.
Der am Verfahren beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten ist der Revision entgegengetreten.
II.
Die Revision führt die Klage zum Erfolg. Die Kläger sind asylberechtigt.
1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß die Kläger in ihrer Heimatregion vor der Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland im September 1976 politische Verfolgung erlitten haben.
Nach seinen das Revisionsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen hatte sich infolge der Zypernkrise und des Bürgerkrieges im Libanon etwa Mitte der 70er Jahre der Gegensatz zwischen Christen und Moslems im Tur Abdin verschärft. Seitdem fristeten die Christen dort in einer intoleranten Umwelt ungeschützt ein beschwerliches Dasein. Sie erlitten schwere, z.T. existenzbedrohende Benachteiligungen und mußten gewalttätige Übergriffe hinnehmen, denen nicht nur, aber jedenfalls auch religiöse Motive zugrunde lagen. Ab 1975 kam es in der Region zunehmend zu schweren, von moslemischen Kurden an Christen begangenen Straftaten, wie Mord, Mordversuch, Entführung, Viehdiebstahl und Sachbeschädigung. Um 1976 nahm die Auswanderung der Christen aus der Region zunehmend Fluchtcharakter an. Ihre Zahl von ursprünglich 70 000 sank auf einen Bruchteil ab. Die Sachwalter des türkischen Staates, Polizei und Gerichte, ahndeten das Vorgehen der Moslems aufgrund der weitgehend von feudalen Stammes- und Religionsführern bestimmten Machtstruktur in der Region nicht oder völlig unzureichend.
Diesen Sachverhalt hat das Berufungsgericht zu Recht dahin gewürdigt, daß zu der Zeit, in der die Kläger ihre Heimat verließen, die syrisch-orthodoxen Christen dort von Moslems in einer dem türkischen Staat zuzurechnenden Weise als Gruppe asylerheblich verfolgt und daß auch die Kläger von dieser Verfolgung betroffen waren. Richtet sich politische Verfolgung gegen. Gruppen ven Menschen, die durch gemeinsame Merkmale wie etwa Rasse, Religion oder politische Überzeugung verbunden sind, "so ist in aller Regel davon auszugehen, daß sich diese Verfolgung gegen jeden Angehörigen der verfolgten Gruppe richtet" (BVerfGE 54, 341 [358/359]). Das bedeutet, daß jeder Angehörige der Gruppe als von deren Verfolgungsschicksal in seiner Person unmittelbar mitbetroffen anzusehen ist, wenn nicht Tatsachen die dafür sprechende Regelvermutung widerlegen, Tatsachen, aus denen sich ergibt, daß der einzelne Angehörige von der Gruppenverfolgung ausgenommen war. Solche Tatsachen sing bei den Klägern nicht feststellbar. Sie verließen ihre Heimat zu der Zeit, in der dort grundsätzlich jeder einzelin syrisch-orthodoxe Christ in seiner Person von den kollektiven Verfolgungsmaßnahmen betroffen und wegen seines Glaubens konkret gefährdet war, und die Zahl der christlichen Familien schon stark geschrumpft war und ihre Ausreise fluchtartigen Charakter angenommen hatte. Dafür, daß die Kläger aufgrund für sie bestehender besonderer Umstände nicht hätten zu befürchten brauchen, von der Verfolgung der Glaubensgenossen erfaßt zu werden, oder daß die bestehende Verfolgungssituation nicht das Motiv ihrer Ausreise gewesen sei, ist nichts ersichtlich. Vielmehr ist beispielsweise der Kläger zu 3) noch 10 Tage vor der Ausreise von moslemischen Jugendlichen derart geschlagen worden, daß ihm ein Arm brach.
2. Frei von Rechtsirrtum ist das Berufungsgericht weiterhin davon ausgegangen, daß der Anerkennung als Asylberechtigeter in der Bundesrepublik Deutschland sowohl nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG alsauch nach Art. 1 Buchst. A Nr. 2 GK entgegensteht, wenn dem Asylbewerber zwar in Teilen seines Heimatstaates politische Verfolgung erstmalig oder wiederholt droht, er aber in anderen Teilen des Landes ohne Furcht vor politischer Verfolgung leben kann, sog. inländische Fluchtalternative. Das Grundrecht auf Asyl, das Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet, gilt dem Schutz vor der vom Staat ausgehenden oder vom ihm zu verantwortendem politischen Verfolgung. Das ergeben Entwicklungsgeschichte und Zielsetzung des Grundrechts und ist in ständiger Rechtsprechung vom Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht dargelegt worden (BverfGE 9, 54, 341 [357/358]; BverwGE 39, 27 [29]; 65, 250 [251]; Jrteil vom 17. Mai 1983 - BverwG 9 C 36.83 - InfAuslR 1933, 228 [230]; zur Veröffentlichung in BVerwGE bestimmt). Danach bedarf des Schutzes vor politischer Verfolgung im Ausland nicht, wer den gebotenen Schutz vor ihr auch im eigenen Land finden kann (vgl. Beschlüsse vom 14. August 1980 - BVerwG 9 B 1307.80 - und vom 22. August 1980 - BVerwG 9 B 1547. 80 - Buchholz 402. 24 § 28 AuslG Nrn. 20 und 22). Entsprechendes gilt nach § 2 AsylVfG (und galt zuvor nach § 28 letzter Halbsatz AuslG), wenn ein politisch Verfolgter, der in der Bundesrepublik Deutschland Asyl begehrt, bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung gefunden hat, sog. ausländische Fluchtalternative. Maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen einer in - oder ausländischen Fluchtalternative vorliegen, ist, wie stets bei der Beurteilung asylrechtlicher Sachverhalte, der Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung (BVerfGE 54, 341 [359/360]). Es kommt also, was im Hinblick auf in Rechtsprechung und Schrifttum bisweilen gebrauchte Formulierungen vorsorglich vermerkt sei, nicht etwa (auch) auf die Lage im Heimatland zur Zeit der Flucht an.
3. Entgegen der Meinung des Berufungsgerichts ist jedoch zu verneinen, daß für die Kläger in Istanbul, wo sie nach dem Ergebnis der berufungsgerichtlichen Beweisaufnahme allein in Betracht kommt, eine inländische Fluchtalternative besteht. Die Kläger sind, wie dargelegt, im Heimatland bereits einmal von politischer Verfolgung betroffen gewesen. Ihnen kann daher die Rückkehr in den Verfolgerstaat oder in Teile desselben nach BVerfGE 54, 341 nur zugemutet werden, "wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist" (a.a.O. 361/362). Das bedeutet nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats, daß an die Wahrscheinlichkeit des Ausschlusses einer Wiederholungsverfolgung hohe Anforderungen zu stellen sind. Läßt sich für einen Asylbewerber, der in der Vergangenheit bereits einmal politische Verfolgung erlitten hat, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen, daß er bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat erneut politischer Verfolgung ausgesetzt sein wird, so ist seine Asylberechtigung anzuerkennen (Urteil vom 31. März 1981 - BVerwG 9 C 237.80 - [Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27]; s. ferner BVerwGE 65, 250). Das gilt nicht nur in bezug auf die Situation in der bisherigen Heimatregion des Asylbewerbers, sondern muß ebenso auch am möglichen Ort einer inländischen Fluchtalternative beachtet werden. Das hat das Berufungsgericht hier verkannt. Nach dem Ergebnis seiner eingehenden und umfangreichen Beweiserhebung über die Lage der syrisch - orthodoxen Christen in Istanbul lassen sich ernst - hafte Bedenken nicht ausräumen, daß den Klägern in Istanbul, wo sie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in einer den Christen nicht selten feindlichen Umwelt leben müßten, erneut Verfolgung wegen ihres Glaubens droht. Das Berufungsgericht hat gleichsam als Quintessenz des Gutachtens des Sachverständigen Carragher hervorgehoben, "es sei aufgrund der Situation in Istanbul grundsätzlich weder festzustellen noch auszuschließen, daß gegen Christen Gewaltakte ihres Glaubens wegen gerichtet würden". Dieses Ergebnis, das nach den dargelegten Maßstäben zur Anerkennung der Kläger führen muß, hat durch die übrige Beweisaufnahme keine Veränderung zu ihren Lasten erfahren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Dr. Korbmacher |
Dr. Paul |
Sträter | ||
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Dr. Kemper |
Dr. Bender | ||
Beschluß
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 11 000 DM festgesetzt.
Dr. Korbmacher |
Dr. Paul |
Sträter | ||
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Dr. Kemper |
Dr. Bender | ||
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