Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 4.4.1991 - 2 BvR 1497/90
- Document source:
-
Date:
4 April 1991
Bundesverfassungsgericht
Beschluß vom 4.4.1991 - 2 BvR 1497/90
Leitsatz der Redaktion:
Ob eine asylspezifische Zielrichtung einer staatlichen Maßnahme vorliegt, die Verfolgung mithin »wegen« eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beruteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten; hierbei ist nicht entscheidend, ob die Maßnahme der staatlichen Selbstverteidigung dient.
Sachverhalt: Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Auf seine Verfassungsbeschwerde hin hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts - durch die Richter Böckenförde, Kruis und Franßen - am 4.4.1991 einstimmig beschlossen:
»Das Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 25. Juni 1990 - 5 A 455/89.OS/B - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit es die auf Asylgewährung gerichtete Klage abweist. In diesem Umfang sowie im Kostenausspruch wird es aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Damit ist der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 17. Oktober 1990 - 11 L 504/90 - gegenstandslos.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.«
Aus den Gründen:
»A. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Abweisung seiner Asylklage und der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung.
I.
1. Er ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste im Dezember 1988 ins Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Zur Begründung machte er geltend, er habe sich bis zum Jahre 1980 in der DHKD und danach in der TKSP engagiert. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag ab. Die Ausländerbehörde forderte ihn unter Abschiebungs androhung gemäß § 28 AsylVfG zur Ausreise auf. Gegen beide Bescheide erhob er Klage.
In der mündlichen Verhandlung am 25. Juni 1990 erklärte der Beschwerdeführer u. a.:> Nach dem Militärdienst wurde ich ständig von der Polizei beobachtet. Von Ende des Jahres 1984 bis Anfang des Jahres 1985 wurde ich dreieinhalb Monate inhaftiert, weil ich es abgelehnt hatte, mit dem türkischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Wenn mir vorgehalten wird, ich hätte im Vorverfahren angegeben, daß ich wegen des Besitzes verbotener Publikationen verhaftet worden sei, so erkläre ich dazu folgendes: Verhaftet wurde ich, wie im Vorverfahren ausgeführt, wegen des Besitzes verbotener Druckerzeugnisse. In der Haft wurde ich aber aufgefordert, mit dem türkischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten, was ich abgelehnt habe.
Mit dem angegriffenen Urteil wies das Verwaltungsgericht die Klagen ab: Der Beschwerdeführer habe eine politische Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Sein Vorbringen sei teilweise wegen fehlender Substantiiertheit und Widersprüchlichkeit als unglaubwürdig zu betrachten, teilweise widersprächen seine Angaben den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen. Widersprüchlich seien u. a. die Angaben über den Grund der Verhaftung. Beim Bundesamt habe er angegeben, er sei wegen des Besitzes verbotener Publikationen in Haft genommen worden; demgegenüber habe er bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung erklärt, er sei verhaftet worden, weil er es abgelehnt habe, mit der türkischen Polizei zusammenzuarbeiten. Die von ihm nach Vorhalt dafür gegebenen Erklärungen seien nicht geeignet, diese Widersprüche aufzulösen. Er habe sein Vorbringen in beiden Fällen lediglich korrigiert, ohne dafür eine Begründung zu geben. Er brauche auch nicht deshalb allein mit Verfolgung zu rechnen, weil er Kurde sei. Dem türkischen Staat gehe es >bei seinen gegen die Kurden gerichteten Maßnahmen nicht oder auch um die Diskriminierung und Disziplinierung der Kurden, sondern ausschließlich um die Erhaltung der staatlichen Einheit und des Gebietsstandes. Aus dem vom Beschwerdeführer überreichten umfangreichen Material ließe sich nicht entnehmen, daß die Kurden neuerdings in der Türkei einer Gruppenverfolgung unterlägen. Das gelte selbst dann, wenn die in den überreichten Unterlagen enthaltenen Darstellungen richtig seien. Es gehe daraus nämlich nur hervor, daß die Übergriffe gegen politisch aktive Kurden sich in letzter Zeit noch verstärkt hätten und daß die gegen sie angewendeten Gesetze noch verschärft und noch strenger als früher angewendet würden. Dem Material könne darüber hinaus auch entnommen werden, daß die erwähnten Diskriminierunanuron gen beide Beecheide
In der mügen der Kurden schlechthin, also auch der politisch nicht aktiven Kurden, sowie die sozialen Benachteiligungen durch den türkischen Staat und die Nachstellungen durch staatliche und private Stellen in der letzten Zeit zugenommen hätten. Dagegen ergäben die Unterlagen keinen Anhaltspunkt dafür, daß es nunmehr Ziel der politischen und militärischen Aktionen in den kurdischen Gebieten sei, die kurdische Minderheit zu diskriminieren, niederzuhalten oder gar zu vernichten, sondern daß diese Aktionen nach wie vor nur dem Zweck dienten, die Herrschaft des turkischen Staates unter Wahrung der Überzeugung seiner Staats-bürger aufrechtzuerhalten. Die auf grundsätzliche Bedeutung und Verfahrens-mängel (§ 32 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG) gestützte ßeschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung wies das Oberverwaltungsgericht ohne Angabe von Gründen (§ 32 Abs. 5 AsylVfG) zurück.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die gerichtlichen Entscheidungen und rügt eine Verletzung von Art. 16 Abs. 2 tz 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoße, daß das Verwaltungsgericht eine angeblich vom Beschwerddführer stammende Äußerung zu seinem Nachteil gewertet habe, die er überhaupt nicht abgegeben habe. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG werde u. a. durch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Verfolgung der Kurden als rassischer Minderheit verletzt. Er - der Beschwerdeführer - habe in der mündlichen Verhandlung eine Reihe von Unterlagen eingereicht, die nachgewiesen hätten, daß jedenfalls nunmehr Kurden wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der Türkei verfolgt würden. Die Ausführungen des Gerichts dazu seien von der vom Bundesverfassungsgericht nicht gebilligten sog. Motivationstheorie des Bundesverwaltungsgerichts in verfassungsrechtlich unzulässiger Art und Weise geprägt. Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts verletze zudem Art. 16 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG, weil er keine Begründung enthalte.
II. Das Bundesverfassungsgericht hat den Anhörungsberechtigten (§ 94 BVerfGG) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
B.
I. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht in vollem Umfang zulässig. Da der Beschwerdeführer die beantragte Aufhebung des angegriffenen Urteils nicht auch im Hinblick darauf begründet hat, daß über den aufenthaltsbeendenden Bescheid der Ausländerbehörde befunden wurde, ist die Verfassungsbeschwerde insoweit wegen Fehlens einer den Anforderungen des (§ 92 BVerfGG genügenden Begründung unzulässig.
II. Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und auch im Sinne von 5 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.
1. Allerdings liegt die Rüge, das Verwaltungsgericht habe Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt, indem es eine angebliche Äußerung des Beschwerdeführers, die dieser nicht gemacht habe, zu seinem Nachteil gewertet habe, neben der Sache. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung hat der Beschwerdeführer die von ihm in Abrede gestellte Äußerung sehr wohl gemacht. Zwar hat er sodann auf Vorhalt des Gerichts die Äußerung in dem von ihm vorgetragenen Sinne abgeindert. Vor diesem Hintergrund liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ersichtlich nicht vor. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nämlich nicht verletzt, wenn der Richter zu einer möglicherweise unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit zur Sammlung, Feststellung und Bewertung, der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist (vgl. BVerfGE 22, 267 (273 f.>). Auch Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist insoweit nicht verletzt. Vorliegend ist nicht erkennbar, daß die Feststellung insoweit außerhalb des den Fachgerichten belassenen Wertungsrahmens liegt (BVerfGE 76, 143 (162) = InfAusIR 1988, 87). Gleiches gilt für die weitere Rüge des Beschwerdeführers, das Gericht habe nicht geprüft, ob ihm auch nach seiner Freilassung noch weiterhin Verfolgungsmaßnahmen drohten. Das Verwaltungsgericht hat dazu im angegriffenen Urteil ausgeführt, daß die Angaben über die angeblichen Tätigkeiten in der Türkei so allgemein gehalten seien, daß ein nachvollziehbarer Sachverhalt dem nicht entnommen werden könne. Dieser Wertung ist der Beschwerdeführer weder mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung und schon gar nicht mit der Verfassungsbeschwerde substantiiert entgegengetreten.
2. Soweit die Verfassungsbeschwerde dahingehend zu verstehen sein sollte, das Urteil verstoße gegen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, weil die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen geeignet gewesen seien, nunmehr eine Verfolgung der Kurden wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu beweisen, kann dem Vorbringen jedenfalls deshalb nicht nachgegangen werden, weil die Unterlagen weder vorgelegt noch näher bezeichnet wurden. Es obliegt dem Beschwerdeführer innerhalb der Beschwerdefrist des § 93 BVerfGG eventuelle Verfassungsverstöße substantiiert darzulegen (§ 92 BVerfGG).
3. Gleichwohl verletzt das angegriffene Urteil, soweit die Asylklage abgewiesen wurde, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.
Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil ausgeführt, aus dem vom Beschwerdeführer überreichten umfangreichen Material lasse sich nicht entnehmen, daß die Kurden neuerdings in der Türkei einer Gruppenverfolgung unterliegen. Das gelte selbst dann, wenn die in den überreichten Unterlagen enthaltenen Darstellungen richtig seien. Es gehe daraus nämlich nur hervor, daß die Übergriffe gegen politisch aktive Kurden sich in letzter Zeit noch verstärkt hätten und daß die gegen sie angewendeten Gesetze noch verschärft und noch strenger als früher angewendet würden. Dem Material könne darüber hinaus möglicherweise auch entnommen werden, daß die erwähnten Diskriminierungen der Kurden schlechthin, also auch der politisch nicht aktiven Kurden, sowie die sozialen Benachteiligungen durch den türkischen Staat und die Nachstellungen durch staatliche und private Stellen in der letzten Zeit zugenommen hätten. Dagegen ergäben die Unterlagen keinen Anhalt dafür, daß es nunmehr Ziel der politischen und militärischen Aktionen in den kurdischen Siedlungsgebieten sei, die kurdische Minderheit zu diskriminieren, niederzuhalten oder gar zu vernichten, sondern daß diese Aktionen nach wie vor nur dem Zweck dienten, die Herrschaft des türkischen Staates unter Wahrung der Überzeugung seiner Staatsbürger aufrechtzuerhalten.
Mit dieser Begründung läßt sich das Vorliegen einer politischen Verfolgung nicht verneinen. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin »wegen« eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren,Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerfGE 76, 143 157, 166 f.> = InfAusIR 1988, 87; 80, 315 335> = InfAusIR 1990, 21; 81, 142 151 f.> = InfAusIR 1990, 122); hierbei ist nicht entscheidend, ob die Maßnahme der staatlichen Selbstverteidigung dient. Mit einer fehlenden Motivation des türkischen Staates konnte also das Verwaltungsgericht bereits für die Vergangenheit eine politische Verfolgung der Kurden nicht verneinen. Ob die vom Gericht unterstellte Rechtsverletzung von einer Intensität ist, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als - ausgrenzende -Verfolgung darstellt (vgl. BVerfGE 80, 315 335> = InfAuslR 1990, 21), läßt sich aufgrund der Feststellungen im angegriffenen Urteil nicht endgültig abschätzen. Sind aber keine offensichtlichen Umstände ersichtlich, die einen Rückschluß darauf zuließen, daß eine erneute, verfassungsgemäße Rechtsanwendung mit Sicherheit wiederum zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfallen müßte (vgl. BVerfGE 35, 324 344>), so ist das angegriffene Urteil gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
4. Durch die Aufhebung und Zurückverweisung wird der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts über die Nichtzulassung der Berffung gegenstandslos; er braucht nicht aufgehoben zu werden, weil von ihm keine selbständige Beschwer ausgeht (vgl. BVerfGE 76, 143 170> = InfAuslR 1988, 87). Insofern bedarf es keiner Entscheidung, ob dieser Beschluß den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 oder Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil er ohne Begründung ergangen ist.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die volle Auslagener stattung ergibt sich daraus, daß das Begehren des Beschwerdeführers, soweit es nicht erfolgreich war, von untergeordneter Bedeutung ist (vgl. BVerfGE 42, 212 223>).«
This is not a UNHCR publication. UNHCR is not responsible for, nor does it necessarily endorse, its content. Any views expressed are solely those of the author or publisher and do not necessarily reflect those of UNHCR, the United Nations or its Member States.