Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 10. November 1989-2 BvR 403/84, 2 BvR 1501/84

Bundesverfassungsgericht

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

Über

die Verfassungsbeschwerden

1.         des türkischen Staatsangehörigen

A....

gegen

a)         den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Februar 1984 - 9 CB 191.83 -,

b)         das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 19. Mai 1983 - 11 OVG A 412/82-

-2 BvR 403/84-,

2.         der türkischen Staatsangehörigen

a)         M…,

b)         M…,

c)         M…,

d)         M…,

e)         M…,

f)          M…

Beschwerdeführer zu c) bis f) gesetzlich vertreten durch die Beschwerdeführer zu a) und b),

gegen

a)         den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Oktober 1984 - 9 B 115.84 -,

b)         das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 20. März 1984 - 11 VG A 427/82-

- 2 BvR 1501/84 -

hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richter

Vizepräsident

Mahrenholz,

Träger,

Böckenförde,

Klein,

Graßhof,

Kruis,

Franßen,

Kirchhof

am 10. November 1989 beschlossen:

1.         Die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 19. Mai 1983 - 11 -OVG A 412/82 - und vom 20. März 1984 - 11 OVG A 427/82 - verletzen die Beschwerdeführer zu 1) und 2a) bis f) in ihrem Grundrecht aus Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Damit werden die Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Februar 1984 - 9 CB 191.83 und vom 22. Oktober 1984 - 9 B 115.84 - gegenstandslos.

2.         Das Land Niedersachsen hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige jezidischen Glaubens. Sie machen geltend, daß ihnen wegen ihres Glaubens in der Türkei Verfolgung drohe. Mit ihren zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden wenden sie sich in erster Linie gegen die Abweisung ihrer in erster Instanz erfolgreichen Asylklagen durch das Oberverwaltungsgericht.

A.

I.

1.         Die Jeziden sind eine im Osten der Türkei lebende kleine Minderheit. Sie sind überwiegend als Ackerbauern und Viehzüchter tätig. Ihr Hauptsiedlungsgebiet ist der Tur Abdin, ein unwegsames, nur zum Teil fruchtbares Bergland im Regierungsbezirk Midyat in Südostanatolien. Durch Abwanderungen verringert sich ihre Zahl dort ständig. Die Muttersprache der Jeziden ist nicht das Türkische, sondern ein kurdisches Idiom. Die Zugehörigkeit zu ihrer Gemeinschaft kann nur durch direkte Abstammung von jezidischen Eltern erworben werden;eine Vermischung mit Nichtjeziden gilt als Sünde und führt zum Ausschluß. Im Mittelpunkt ihres Glaubens steht die Verehrung des Melek Taus ("Engel Pfau"), eines in göttliche Ungnade gefaIlenen Engels, der infolge seiner Reue von Gott wiederaufgenommen wurde.

2.         Mit Ausnahme des Privatgebets werden Kulthandlungen im Zusammenhang mit der zugehörigen Priester-(Scheich-) familie ausgeübt, zu der eine enge soziale Bindung besteht. Von den Priestern geleiteter Gottesdienst wird in den Wohnungen abgehalten; örtliche Kultbauten sind unbekannt. Öffentliche Gebete finden im Freien und nur in Anwesenheit anderer Jeziden bei Sonnenaufgang und während bestimmter Festperioden auch zu anderen Tageszeiten statt; die Festriten werden geheim gehalten. Im Hinblick auf diese, dem Charakter einer Geheimreligion nahekommenden Züge ihres Glaubens sind Jeziden in der Lage, Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen anzuerkennen, solange hierdurch nicht Gott oder Melek Taus verleugnet werden. Diese zurückhaltende Darstellung und Praktizierung der eigenen Religion hat den Jeziden eine gewisse Anpassung an ihre überwiegend islamische Umwelt ermöglicht, obwohl ihre Glaubensvorstellungen mit denen des Islam gänzlich unverträglich sind. Wegen ihrer Verehrung des Melek Taus gelten die Jeziden in moslemischer Sicht als "Teufelsanbeter"; sie haben daher unter dem Haß und der Verachtung insbesondere strenggläubiger Moslems zu leiden und waren demgemäß in der Vergangenheit, vor allem im 19. Jahrhundert, mehrfach schweren Verfolgungen durch die moslemische Mehrheit ausgesetzt.

Vgl. zum Vorstehenden: Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Oldenburg vom 18. April 1980, an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen vom 3. Juni 1980, an das Verwaltungsgericht Oldenburg vom 19. Juni 1981 und 8. Juli 1981, an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 2. August 1982, an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. August 1982, an das Verwaltungsgericht Schleswig vom 22. Februar 1983, an das Verwaltungsgdricht Düsseldorf vom 22. August 1983; Stellungnahme von Prof. Dr. G. Wießner/Dr. U. Berner, Vereinigte Theologische Seminare der Universität Göttingen, für das Verwaltungsgericht Stade vom 22. Februar 1982; Aussage des Sachverständigen Dr. Berner vor dem Verwaltungsgericht Stade vom 1. September 1982; J. Roth, Gutachten vom 6. April 1982 zur Situation der jezidischen Kurden in der Türkei, ders., Gutachten vom 17. Oktober 1982 zur Verfolgung der Yeziden in der Türkei; K. Taylan, Gutachen für das Verwaltungsgericht Hamburg vom 24. Oktober 1982 und für das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 6. Mai 1988; Gutachten von Prof. Dr. Wießner für das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 5. Dezember 1983; Aussage des Sachverständigen Prof. Dr. Wießner vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig vom 14. Februar 1984; ders., Stellungnahme für das Verwaltungsgericht Stade vom 15. November 1985; ders., Aussagen vor dem Verwaltungsgericht Bremen vom 11. Juni 1986, vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig vom 11. Oktober 1988 und vor dem Oberverwaltungsgericht-Bremen vom 29. November 1988; A. Sternberg-Spohr, Gutachten zur Situation der Yezidi in der Türkei im Auftrag der Gesellschaft für bedrohte Völker (1988).

II.

1.

a)         Der Beschwerdeführer zu 1) reiste 1979 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter, weil er als Jezide ebenso wie die Angehörigen seiner Stammesgruppe in Ostanatolien von moslemischen Glaubensangehörigen verfolgt und mißhandelt werde, ohne daß die türkische Regierung ihn hiervor schütze; eine Strafverfolgung der Moslems finde nicht statt. In die Westtürkei habe er nicht ausweichen können, weil dort unter den Moslems der gleiche Fanatismus herrsche.

b)         Das Verwaltungsgericht gab der Klage gegen den Asylablehnungsbescheid mit der Begründung statt, Jeziden seien in der Türkei politischer Verfolgung ausgesetzt. Die Religionsfamilien der Jeziden würden in ihren Siedlungsgebieten in Ostanatolien von Moslems verfolgt. Diese Verfolgung sei religiös begründet und damit asylerheblich. Die türkischen Behörden nähmen Vertreibung und Landenteignung tatenlos hin und versagten damit den Jeziden, aus welchen Gründen auch immer, den erforderlichen Schutz.

Eine zumutbare inländische Fluchtalternative bestehe nicht. Sofern ein Jezide angesichts der verbreiteten Arbeitslosigkeit in den Städten der Westtürkei überhaupt Arbeit finde, könne er dieser nur nachgehen, solange es ihm gelinge, sein Jezidentum geheimzuhalten. Für Moslems seien die wegen ihrer Religion verachteten Jeziden als Mitarbeiter unerträglieh. Ein Jezide könne aber seine Religion nicht auf Dauer verleugnen, ohne sie aufzugeben. Dies verletze die Menschenwürde und sei daher nicht zumutbar. Auch einem zur Religionsausübung ausreichend großen Familienverband der Jeziden sei ein Ausweichen in andere Gebiete der Türkei unzumutbar. Er werde nicht unentdeckt bleiben und in einer moslemischen Umwelt nicht geduldet werden.

c)         Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten wies das Oberverwaltungsgericht die Klage ab. Die Sicherheitslage der Jeziden in ihrem engeren Siedlungsgebiet bedürfe keiner abschließenden Erörterung, weil sich eine asylbegründende Verfolgung jedenfalls nicht für das gesamte türkische Staatsgebiet feststellen lasse; ihnen drohe insbesondere in den Städten der Türkei keine politische Verfolgung. Es könne mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, daß Jeziden dort jetzt oder in absehbarer Zeit gewalttätigen Übergriffen von Moslems schutzlos ausgeliefert seien. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, Jeziden hätten aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit auch mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu rechnen und würden letztlich ihre religiöse Identität verlieren, lasse die erforderliche Abgrenzung von staatlicher Verfolgung und asylrechtlich unerheblichen allgemeinen Nachteilen vermissen. Das Asylrecht diene nicht, dazu, ganze Bevölkerungsgruppen vor allmählicher Assimilation zu bewahren. Nach den Auskünften des Auswärtigen Amtes brauchten die Jeziden ihren Glauben auch nicht in unzumutbarer Weise zu verleugnen. Auseinandersetzungen mit Arbeitskollegen seien nicht zu erwarten, sofern ein Jezide seine Sonderrolle nicht ostentativ zur Schau stelle.

d)         Gegen dieses Urteil wandte sich der Beschwerdeführer zu 1) sowohl mit der zulassungsfreien Verfahrensrevision, die an die Ablehnung eines im Berufungsrechtszug gestellten Befangenheitsantrags anknüpfte, als auch mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. Beide Rechtsmittel blieben erfolglos.

2.

a)         Die 1979 und 1980 in die Bundesrepublik eingereisten Beschwerdeführer zu 2) beantragten ihre Anerkennung als Asylberechtigte mit der Begründung, daß sie in ihren Siedlungsgebieten als Kurden jezidischen Glaubens von religiösen und politischen Fanatikern verfolgt und bedroht würden.

b)         Das Verwaltungsgericht gab der Klage gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes statt; zur Begründung bezog sich das Gericht im wesentlichen auf die Ausführungen in dem vom Beschwerdeführer zu 1) erstrittenen erstinstanzlichen Urteil.

c)         Auf die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten wies das Oberverwaltungsgericht die Klage ab. Einer Gruppenverfolgung seien die Beschwerdeführer zu 2) in ihrer Heimat nicht ausgesetzt gewesen; sie machten allerdings - wenn auch nicht widerspruchsfrei - geltend, individuell wegen ihrer Religionszugehörigkeit in lebensbedrohliche Situationen geraten zu sein. Eine Anerkennung aus diesem Grunde komme aber selbst dann nicht in Betracht, wenn man die rechtlichen und tatsächlichen Anforderungen einer politischen Verfolgung in der Vergangenheit für gegeben erachte. Den Beschwerdeführern stehe in den größeren türkischen Städten eine Fluchtalternative offen. Nach den eingeholten gutachtlichen Stellungnahmen hätten die Jeziden in den Städten Unterschlupf gesucht und könnten dort leben und Arbeit finden, solange sie sich nicht als Jeziden zu erkennen gäben oder auffielen. Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, Jeziden seien asylberechtigt, weil sie in den türkischen Städten ihre religiöse Identität verlören, trat das Berufungsgericht mit denselben Erwägungen entgegen, die es hierzu bereits in seinem den Beschwerdeführer zu 1) betreffenden Urteil angestellt hatte.

d)         Das Bundesverwaltungsgericht wies die von den Beschwerdeführern zu 2) gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegte, u. a. auf eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGo) gestützte Beschwerde zurück.

III.

Die Beschwerdeführer haben jeweils Verfassungsbeschwerde gegen das sie betreffende Berufungsurteil sowie gegen den nachfolgenden Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts erhoben.

1.         Der Beschwerdeführer zu 1) rügt neben Verstößen gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG eine Verletzung von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG: Das Berufungsgericht unterstelle eine Verfolgung von Jeziden nur in ihren engeren Siedlungsgebieten. Dies indiziere aber Wiederholungsgefahr, so daß das Oberverwaltungsgericht die von ihm angenommene Fluchtalternative besonders sorgfältig hätte prüfen und sich dazu aller verfügbaren Erkenntnismittel hätte bedienen müssen. Diese Pflicht habe es jedoch, und ihm folgend das Bundesverwaltungsgericht, verkannt.

2.         Die Beschwerdeführer zu 2) rügen ebenfalls in erster Linie die Verletzung von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG und daneben von Art. 101 Abs. 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG: Das Oberverwaltungsgericht habe bei seiner Auseinandersetzung mit der Lage der Jeziden in der Türkei den Maßstab für das Asylgrundrecht verloren und an das Vorbringen der Beschwerdeführer unzumutbar hohe Anforderungen gestellt.

IV.

Zu den Verfassungsbeschwerden haben sich für die Bundesregierung der Bundesminister des Innern und für die Niedersächsische Landesregierung der Niedersächsische Minister des Innern geäußert; für das Bundesverwaltungsgericht hat der Vorsitzende des 9. Senats Stellung genommen.

Der Bundesminister des Innern und der Niedersächsische Minister des Innern verneinen eine Verletzung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG im Hinblick auf die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen. Das Bundesverwaltungsgeridht hat mitgeteilt, es habe zur Frage einer möglichen politischen Verfolgung türkischer Jeziden bisher keine Entscheidung aufgrund zugelassener Revision getroffen.

B.

Die Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die angegriffenen Urteile verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.

I.

Die Berufungsurteile des Oberverwaltungsgerichts werden jeweils von der Auffassung getragen, daß den in ihrer Heimatregion verfolgten Jeziden in den (großen) Städten der Türkei eine inländische Fluchtalternative offenstehe, die politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ausschließe. Ob die Beschwerdeführer in ihrer Heimat in Südostanatolien als Angehörige einer religiösen Minderheit eine dem Staat zurechenbare politische Verfolgung durch Dritte erlitten haben, hat das Oberverwaltungericht offengelassen. Von der damit zugunsten, der Beschwerdeführer verbundenen Unterstellung einer bereits erlittenen und fortdauernden regionalen politischen Verf olgupg geht auch der Senat im vorliegenden Verfahren aus. Daher brauchte er nur zu entscheiden, welche Anforderungen von Verfassungs wegen an die Annahme einer solchen Fluchtalternative zu stellen sind (II.) und ob die angegriffenen Urteile diesen Anforderungen standhalten; dies ist zu verneinen (III.).

II.

1.         Wird jemand von regionaler politischer Verfolgung betroffen, ist er erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage gerät, weil er in anderen Teilen seines Heimatlandes eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann (vgl. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, Umdruck S. 36). Eine solche Zufluchtsmöglichkeit im Heimatland kann selbst dann bestehen, wenn der Staat in bestimmten Landesteilen aktiv verfolgt; dies schließt nicht notwendig und von vornherein aus, daß er den von dieser Verfolgung Betroffenen an anderer Stelle Schutz zu gewähren bereit ist (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 36/37), mag dies auch die Ausnahme sein. Werden dem Staat dagegen wegen einer nicht ausreichenden, obgleich möglichen Wahrnehmung seines Gewalt- und Schutzmonopols Verfolgungshandlungen Dritter als mittelbare staatliche Verfolgung zugerechnet, verfolgt er also nicht selbst, so ist das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative regelmäßig in Betracht zu ziehen. Ethnische und religiöse Gegensätze, die zu Gewalttaten gegenüber Minderheiten führen, brauchen nicht ein ganzes Land gleichermaßen zu erfassen, und die Autorität des Staates kann in den einzelnen Teilen des Staatsgebiets in unterschiedlicher, die Bereitschaft zur Schutzgewährung eher fördernder oder eher hindernder Weise präsent sein.

2.         Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, daß der von regionaler Verfolgung Betroffene dort vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 38 f.).

a)         Ist jemand vor einer regionalen, an seine Religionszugehörigkeit anknüpfenden politischen Verfolgung geflohen, so ist er am Ort einer in Betracht kommenden Fluchtalternative auch dann nicht hinreichend sicher vor politischer Verfolgung, wenn der Staat ihn durch eigene Maßnahmen daran hindert, das religiöse Existenzminimum zu wahren. Entsprechendes gilt, wenn die dort ansässige Bevölkerung die Wahrung des religiösen Existenzminimums durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares Handeln unmöglich macht, ohne daß der Staat die nach seiner Rechtsordnung hiergegen allgemein in Betracht kommenden Maßnahmen ergreift; die mit der politischen Verfolgung verbundene Ausgrenzung würde damit fortdauern. Freilich ist hierbei zu berücksichtigen, daß es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt, zumal in den oft unübersichtlichen Verhältnissen von Großstädten, zu garantieren.

b)         Das religiöse Existenzminimum gehört zu dem unentziehbaren Kern der Privatsphäre, den der religiöse Mensch zu seinem Leben- und Bestehenkönnen als sittliche Person benötigt; es umfaßt die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa den häuslichen Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und den Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf (vgl. BVerfGE 76, 143 158/159>). Dabei sind bei der hier in Rede stehenden archaischen und von mündlicher Überlieferung geprägten Religionsform die besonderen Voraussetzungen der Religionsausübung in den Blick zu nehmen, die nach der allgemein geübten religiösen Praxis für das religiöse Leben schlechthin unverzichtbar sind. Für die Jeziden kann insoweit die Aufrechterhaltung einer Familienstruktur im Sinne eines für die Ausübung der Kulthandlungen notwendigen Gruppenzusammenhalts und, damit einhergehend, einer Verbindung mit einer Priesterfamilie in Betracht kommen. In diese Richtung weisen jedenfalls die vom Oberverwaltungsgericht in Bezug genommenen Gutachten und sachverständigen Stellungnahmen.

III.

Die angegriffenen Urteile werden diesem Maßstab nicht gerecht.

1.         Das Berufungsgericht geht zunächst davon aus, daß das Asylrecht religiöse oder ethnische Minderheiten nicht vor einer allmählichen Assimilation als Folge eines langfristigen Anpassungsprozesses schützen solle, dem sich der einzelne aufgrund einer sich verändernden Situation seiner Umwelt und seiner Lebensbedingungen in seinem Heimatland ausgesetzt sehe. Dieser Ausgangspunkt ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die für die Jeziden mit der Umstellung von einer bäuerlichen auf eine städtische Lebensweise verbundenen Schwierigkeiten und die damit möglicherweise einhergehenden Gefährdungen und Nachteile für die Aufrechterhaltung der religiösen Identität geben als solche noch keinen hinreichenden Anlaß für die Annahme einer auch die türkischen Städte erfassenden politischen Verfolgung. Damit hat es aber nach dem zuvor Gesagten nicht sein Bewenden.

2.         Nicht jeder mit einem Leben in der Stadt verbundene "Anpassungsdruck", der, wie das Oberverwaltungsgericht bemerkt, zur Auflösung des archaischen Gruppenzusammenhalts unter den Jeziden führt, ist im Blick auf Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG asylrechtlich unerheblich. Er kann nach dem zu II. Gesagten die Annahme einer Verfolgungssicherheit ausschließen, wenn in den türkischen Städten eine feindlich eingestellte moslemische Umgebung durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares Handeln Jeziden daran hindert, dasjenige Maß an Zusammenhalt in einer "Religionsamilie" zu finden, welches sie möglicherweise zur Wahrung ihres religiösen Existenzminimums, benötigen, ohne daß der türkische Staat sich gegenüber rechtswidrigen Übergriffen konkret belegbar - beispielsweise durch Fälle tatsächlich gewährten Schutzes - schutzwillg zeigt. Eine hiernach mögliche Verneinung der Verfolgungssicherheit kommt allerdings nur für solche Jeziden in Betracht, die ihrer Religion noch existenziell verbunden sind und sie insbesondere in einer nach dieser Religion möglicherweise unverzichtbaren Gemeinschaft zu leben trachten. (vgl. auch BVerfGE 76, 143 160>).

3.         Das Oberverwaltungsgericht, ist dem allem nicht weiter nachgegangen. Es hat nicht geprüft, welche Bedeutung dem Zusammenhalt der Jeziden untereinander und mit der Priesterfamilie für die Religionsbewahrung zukommt, welches Maß an Zusammenhalt in räumlicher und zeitlicher Hinsicht hierfür auch nach den in der Bundesrepublik mittlerweile vorliegenden Erfahrungen erforderlich ist, ob die Beschwerdeführer nach ihrer eigenen Religiosität hierauf angewiesen sind und ob der hierfür gegebenenfalls notwendige staatliche Schutz gegenüber rechtswidrigen Übergriffen in hinreichend verläßlicher Weise gewährleistet erscheint. Solche Übergriffe können darin bestehen, daß die Mitglieder von Jezidenfamilien bei der Entdeckung ihrer Religionszugehörigkeit körperlichen Mißhandlungen oder vergleichbar schwerwiegenden menschenverachtenden Behandlungen durch ihre moslemische Umwelt ausgesetzt sind, daß sie aus ihren Wohnungen vertrieben werden oder sonstige rechtswidrige Maßnahmen von ähnlicher Intensität zu erleiden haben, mit der Folge, daß sich das unerläßliche Maß reli-Behandlung von Jeziden am Arbeitsplatz, nur allgemeine Mutmaßungen, die - wie das Auswärtige Amt selbst hervorhebt - nicht auf konkreten Erfahrungen oder Erkenntnissen beruhen.

4.         Das Berufungsgericht wird den aufgeworfenen Fragen näher nachzugehen haben. Sollte es dabei zu dem Ergebnis kommen, daß für Jeziden in den (großen) türkischen Städten hinreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung besteht, wird es weiter prüfen müssen, ob die Beschwerdeführer im Zeitpunkt ihrer Flucht dort.sonstigen, an, ihrem Herkunftsort so nicht gegebenen Nachteilen und Gefährdungen ausgesetzt gewesen wären, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen. Das ist auch dann zu bejahen, wenn sie sich derartigen Nachteilen und Gefahren nur durch Aufgabe einer das religiöse Existenzminimum wahrenden Lebensweise hätten entziehen können. Wenn all dies nicht der Fall ist, kann davon ausgegangen werden daß die Beschwerdeführer wegen des Bestehens einer inländischen Fluchtalternative unverfolgt aus der Türkei ausgereist sind (vgl. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989, a.a.O., S. 39).

IV.

Da die Verfassungsbeschwerden bereits im Hinblick auf die geltend gemachte Verletzung von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG Erfolg haben, kann offenbleiben, ob die von den Beschwerdeführern daneben gerügten Verstöße insbesondere gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 GG vorliegen.

Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Mahrenholz

Der Richter Träger ist aus dem Amt ausgeschieden und deshalb an der Unterschrift verhindert. Mahrenholz

Böckenförde

Klein

Graßhof

Der Richter Kruis ist an der Unterschrift verhindert. Mahrenholz

Franßen

Kirchhof

 

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