Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 20. Dezember 1989-2 BvR 749/89

Bundesverfassungsgericht

Beschluss vom 20. Dezember 1989 -2 BvR 749/89

In dem Verfahren

Über die Verfassungsbeschwerde

X gegen

a)         den Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. April 1989 - 11 CZ 89. 30392 -,

b)         das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 6. Dezember 1988 - AN 1 K 87. 35579 -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Böckenförde, Kruis, Franßen

am 20. Dezember 1989 einstimmig beschlossen:

Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 6. Dezember 1988 - AN 1 K 87. 35579 - und der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. April 1989 - 11 CZ 89. 30392 - verletzen den Beschwerdeführer in seinim Grundrecht aus Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Das Urteil des Verwaltungsgerichts wird aufgehben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen. Der Beschluß des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs wird damit gegenstandslos.

Der Freistaat Bayern hat dern Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen der Anwendung von Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht zur Asylerheblichkeit selbstgeschaffener Nachfluchtgründe entwickelt hat.

I.

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste 1974 im Alter von vierzehn Jahren zu seinen bereits seit 1969 in der Bundesrepublik lebenden Eltern. Als ihm nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe die Abschiebung aus dem Bundesgebiet drohte, stellte er 1986 einen Asyantrag, den er mit seiner Furcht begründete, bei Rückkehr in sein Heimatland aufgrund politischer Tätigkeit in der Bundesrepublik staatlich verfolgt zu werden: Er sei zwar vor seiner Ausreise aus der Türkei politisch nicht aktiv gewesen, weil er noch zu jung gewesen sei, er habe jedoch seinerzeit schon mit dem Kurdentum sympathisiert und als Kind auch die Ungerechtigkeiten gegenüber Kurden miterlebt. 1977 habe er zusammen mit einem Freund einen Verein gegründet, dessen Aufgabe es gewesen sei, Jugendliche für die Anliegen Kurdistans zu begeistern. In diesem Verein sei er noch heute aktiv und bis zu seiner Verhaftung für die Organisations - und Kulturarbeit zuständiges Vorstandsmitglied gewesen. Er habe an zahlreichen Demonstrationen gegen die türkische Militärjunta und an fast allen Newroz-Festen als Sänger oder auch als Chorleiter teilgenommen. Des weiteren habe er sich als Journalist betätigt und sich sehr aktiv für die kurdische Sache eingesetzt. Die türkischen Behörden hätten hiervon wahrscheinlich Kenntnis. Seit Anfang 1979 sei er als Volkssänger, meistens für KOMKAR, aufgetreten, und zwar auch im benachbarten Ausland; wegen seines bundesweiten Auftretens sei er bei den demokratischen, für ein freies Kurdistan kämpienden Kräften sehr bekannt. 1981 sei er bei einem längeren Hungerstreik gegen Folter und Massaker in Kurdistan, bei dem er auch als Sänger aufgetreten sei, vom WDR gefilmt worden. Er sei sicher, daß die türkischen Behörden von seiner musikalischen Tätigkeit Kenntnis hätten und ihn sofort nach der Einreise in die Türkei verhaften und foltern würden. Ein Konsulatsbeamter habe ihn im Gefängnis aufgesucht und ihm u.a. mitgeteilt, daß sein Reisepaß wohl nicht mehr verlängert würde und er wohl auch in der Türkei Probleme bekommen werde. Seinen Asylantrag habe er erst so spät gestellt, weil er bis zu seiner Inhaftierung immer eine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe.

Das Bundesamt erkannte den Beschwerdeführer als asylberechtigt an.

1.         Das Verwaltungsgericht hob den Anerkennungsbescheid mit der Begründung auf, der Beschwerdeführer könne sich weder auf Vor- noch auf Nachfluchtgründe berufen, letzteres deshalb nicht, weil er vor dem Verlassen seines Heimatlandes cine bestimmte politische Überzeugung nicht in irgendeiner Weise nach außen kund - und auch nicht dargetan habe, daß er bereits als Kind in der Türkei mit seinen musikalischen Auftritten für die "kurdische Sache" habe eintreten wollen.

Das Verwaltungsgericht ließ die Berufung nicht zu.

Die hiergegen eingelegte Beschwerde begründete der Beschwerdeführer damit, es stelle sich die grundsätzliche Rechtsfrage, ob ein sog. subjektiver Nachfluchttatbestand sich auch dann als Ausdruck und Fortführung einer schon wahrend des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betatigten festen Überzeugung darstellen müsse, um zur Asylberechtigung zu führen, wenn der Betroffene - seinerzeit noch im Kindesalter - überhaupt nicht in der Lage gewesen sei, eine derartige Überzeugung berits im Heimatstaat zu entwickeln und auch erkennbar zu betätigen.

2.         Der Verwaltungsgerichtshof wies die Beschwerde zurück, da Zulassungsgründe im Sinne des § 32 Abs. 2 AsylVfG nicht vorgetragen seien, insbesondere "die behauptete grundsätzliche Bedeutung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BverfGE 74, 51) bereits geklärt" sei. Kernstück dieser Rechtsprechung sei, daß der Asylbewerber beim Verlassen der Heimat wegen einer bereits erlittenen oder ihm drohenden Verfolgung sich in einer für ihn aussichtslosen Lage befunden haben müsse, der er sich nur durch die Flucht in das Aufnahmeland habe entziehen können; auf das Alter des Asylbewerbers komme es bei dieser ausweglosen Lage grundsätzlich nicht an. Hierbei sei etwa an die ausweglose Lage rassisch oder religiös verfolgter Jugendlicher zu denken, die sich nur durch die Flucht in ein Aufnahmeland der Gefährdung ihrer Freiheit oder sogar von Gesundheit und Leben entziehen könnten. Zu dieser Gruppe von Verfolgten zähle aber der Beschwerdeführer gerade nicht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt habe. Nur bei bereits erwachsenen Asylbewerbern, die sich in ihrem Heimatstaat politisch gegen die Staatsmacht betätigt hätten, verlange die Rechtsprechung eine Kontinuität und Identität dieser politischen Tätigkeit im Sinne des Entstehens und Weiterbestehens beachtlicher Vorund Nachfluchtgründe.

Der Beschluß wurde dem Beschwerdeführer am 14. April 1989 zugestellt.

3.         Mit der am 13. Mai 1989 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 16 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip): Seine exilpolitischen Aktivitäten ergäben sich nach richtiger Auffassung als notwendige Konsequenz einer andauernden, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen künstlerischen und gleichzeitig politischen Lebenshaltung, diese Lebenshaltung sei schon Jahre vor der Asylantragstellung nach außen sichtbar geworden und habe ihre Wurzeln bereits im Kindesalter und damit im Herkunftsland des Beschwerdeführers. Jedenfalls liege einer der Ausnahmegründe vor, in denen ein sog. subjektiver Nachfluchttatbestand nicht von der Asylerheblichkeit ausgeschlossen sei. Die vom Verwaltungsgerichtshof gestellte Anforderung, daß bei Asylsuchenden, die im Kindesalter das Herkunftsland verlassen hatten, eine aussichtslose Lage bestanden haben müsse, wie dies etwa bei rassisch oder religiös verfolgten Jugendlichen der Fall sei, erscheine im Verhältnis zu den erwachsenen Flüchtlingen sachlich nicht gerechtfertigt.

II.

Der Bayerische Staatsminister des lnnern hat von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

Die - zulässige - Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

1.         Die Verwaltungsgerichte sind der Tragweite des Asylgrundrechts des Beschwerdeführers nicht gerecht geworden, weil sie den vorliegenden Fall der Leitlinie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur grundsätzlichen Asylunerheblichkeit einer exilpolitischen Betätigung und Zugehorigkeit zu einer Emigrantenorganisation (BverfGE 74, 51 66>) zugeordnet haben.

Das Verwaltungsgericht hat lediglich das Vorliegen der auch vom Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) erörterten Ausnahmen geprüft und - in freilich verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise - verneint, daß die exilpolitische Betätigung des Beschwerdeführers sich als Fortführung einer entsprechenden, schon während des Aufenthalts im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigtem festen politischen Überzeugung darstellt. Ob vorliegen weitere Ausnahmen zu gelten haben, läßt das Verwaltungsgericht dagegen unerörtert. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat die genannte "Leitlinie" jedoch als "nicht notwendig abschließend" bezeichnet und damit für die Entwicklung weiterer Kriterien der Asylerheblichkeit exilpolitischer Tätigkeiten insbesondere dann Raum gelassen, wenn die Frage nach einer persönlichkeits - und identitatsprägenden Lebenshaltung des Asylbewerbers vor seiner Austreise aus dem Heimatstaat sich nach Lage des Falles nicht stellt, etwa weil der sich politisch gegen die Regierung seines Heimatstaates betatigende Auslander dort nie gelebt hat oder bei seiner Ausreise zu jung war, als daß die Iunehabung einer festen politischen Überzeugung von ihm hatte erwartet werden konnen. An solchen auch vorliegend gegebenen Besonderheiten ist das Verwaltungsgericht vorübergegangen.

Erst der Verwaltungsgerichtshof ist auf sie eingegangen; auch er hat ihnen jedoch nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise Reichnung getragen.

Der Verwaltungsgerichtshof hält den Beschwerdeführer letztlich deshalb nicht für asylberechtigt, weil er sich als Kind in der Türkei nicht in einer der Situation rassisch oder religiös verfolgter Jugendlicher vergleichbaren ausweglosen Lage befunden habe. Damit hat das Gericht die Asylanerkennung des Beschwerdeführers nicht nur in bezug auf die Konsequenzen aus seiner exilpolitischen Betätigung, sondern - insoweit zusatzlich - schon in bezug auf seinen Aufenthalt im Heimatstaat vom Vorliegen einer "ausweglosen Lage" abhangig gemacht, wie sie dem Wesen eines Asylgrundes (sei es als Vorflucht-, sei es als Nachfluchtgrund) entspricht. Ein Asylgrund oder auch nur ein ihm vergleichbarer Zwang zum Verlassen des Heimatlandes muß aber für die Asylerheblichkeit von Nachfluchtgründen weder im allgemeinen vorgelegen haben noch darf ein solcher Grund in dem besonderen Fall gefordert werden, daß ein Asylberwerber nicht aus politischen Gründen außer Landes gegangen ist und schon wegen seines jugendlichen Alters zur Gewinnung und Bekundung einer politischen Überzeugung noch nicht fähig war.

Ob die Beschwerdeentscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, die sich nicht auf die Prüfung eines Zulassungsgrundes im Sinne des § 32 Abs. 2 AsylVfG beschränkt, sondern sich nach Art einer Berufungsentscheidung bereits zur materiellen Richtigkeit des angegriffenen Urteils verhäit, nicht auch aus anderen Gründen aus der Sicht von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG zu beanstanden ist (vgl. dazu Beschluß der Kammer vom 19. Mai 1988 - 2 BvR 1048/87-), kann offenbleiben.

2.         Nach § 95 Abs. 2 BverfGG war (nur) das angegriffene Urteil aufzuheben und die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Der glerichfalls angegriffene Beschluß über die Zulassung der Berufung ist damit gegenstandslos; er braucht nicht aufgehoben zu werden, weil von ihm keine selbständige Beschwer ausgeht (BverfGE 76, 143 170>).

3.         Der Ausspruch über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BverfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Böckenförde

Kruis

Franßen

 

Comments:
Richter Böckenförde, Kruis, Franßen
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