Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. August 1998-2 BvR 10/98

Bundesverfassungsgericht, 20 Aug. 1998

Leitsatz (nicht amtlich):

Es wird der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 16 a Abs. 1 GG nicht gerecht, wenn die Staatsangehörigkeit des Asylbewerbers nicht weiter aufgeklärt und nicht festgestellt wird, ob dieser dem Staat angehört, von dem er verfolgt zu werden behauptet.

Aus den Gründen:

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderungen an die Fachgerichte bei den Ermittlungen zum Tatbestand »politisch Verfolgter« iSd Art. 16 a Abs. 1 GG.

I.

Die Bf., Eheleute mit zwei minderjährigen Kindern, reisten im Dezember 1991 von ihrem Wohnsitz (Bosnien-Herzegowina) in die BR Deutschland. Die Bf. zu 1 und 2 sind im Kosovo, die Bfin. zu 3 und 4 in M. geboren. Zur Begründung seines Asylantrags gab der Bf. zu 1 an, er sei Offizier der jugoslawischen Volksarmee gewesen. Im September 1991 seien serbische Soldaten in die Garnison M. gekommen, wo er stationiert gewesen sei. Diese hätten ihn und seine Familie belästigt. Er habe Angst gehabt, erschossen zu werden. Daraufhin seien sie ausgereist. Mittlerweile habe er erfahren, daß nach ihm gefahndet werde. Er fürchte, wegen seiner Desertion erschossen zu werden. Die Bfin. zu 2 gab an, ihr sei mehrmals telefonisch gedroht worden, sie und die Kinder umzubringen, falls ihr Mann die Armee nicht verlasse.

Mit Bescheid vom 11.5.1992 lehnte das Bundesamt die Asylanträge ab und stellte fest, daß auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorlägen. In der hiergegen erhobenen Klage machten die Bf. geltend, daß sie nicht die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besäßen; sie seien weiterhin Staatsangehörige »Restjugoslawiens« (S. und M.; heutige BR Jugoslawien - BRJ -). In bezug hierauf stellten die Bf. einen Beweisantrag, den das VG ablehnte. Durch Urteil vom 5.2.1993 wies das VG die Klage ab. Die Bf. hätten keinen Anspruch auf Gewährung politischen Asyls. Auch lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vor. Der Vortrag des Bf. zu 1 könne sein Asylbegehren nicht rechtfertigen. Hinsichtlich der Asylrelevanz der Desertion, die als wahr unterstellt werde, und einer drohenden Bestrafung sei ausschließlich auf die Lage in Bosnien-Herzegowina abzustellen. Entgegen der Auffassung der Bf. hätten diese nicht die Staatsangehörigkeit der neugegründeten BRJ. Dem Anspruch der BRJ auf automatische Nachfolge der Sozialistischen Föderation Republik Jugoslawien (SFRJ) sei die internationale Staatengemeinschaft von Anfang an entgegengetreten. Von EG-Seite werde bestritten, daß die BRJ alleiniger Rechtsnachfolger der SFRJ sei. Im September 1992 habe der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution bekräftigt, »daß der vormals als SFRJ bekannte Staat aufgehört hat zu bestehen«. Es sei darauf hingewiesen worden, daß der Anspruch der BRJ auf automatische Nachfolge der SFRJ nicht allgemein anerkannt werde.

Wenn die neugegründete BRJ nicht automatisch Rechtsnachfolgerin der SFRJ geworden sei, könnten die Bf. nicht automatisch die Staatsangehörigkeit der BRJ erworben haben. Da die Bf. auch nicht die Staatsangehörigkeit der Republik Bosnien-Herzegowina besäßen, seien sie Staatenlose. Für die Frage, ob sie politische Verfolgung befürchten müßten, komme es deshalb auf die Verhältnisse im Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts an. Dies sei die Republik Bosnien-Herzegowina. Dort habe der Bf. zu 1 jedoch keine Bestrafung wegen Desertion zu befürchten.

Hiergegen stellten die Bf. Antrag auf Zulassung der Berufung. Das angefochtene Urteil weiche von der Rechtsprechung des BVerwG zu der Frage ab, nach welchen Kriterien sich die Staatsbürgerschaft einer Person bestimme. Jedenfalls sei die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zuzulassen, weiche Staatsbürgerschaft Personen wie die Bf. hätten. Schließlich liege in der Ablehnung des Beweisantrages durch das VG ein Gehörsverstoß. Durch Beschluß vom 27.11.1997 lehnte das Niedersächsische OVG den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Die geltend gemachte Divergenz liege nicht vor. Die Rechtssache habe auch keine grundsätzliche Bedeutung. Die als klärungsbedürftig bezeichnete Frage bedürfe keiner obergerichtlichen Klärung mehr. Aus den nunmehr erlassenen staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen der Nachfolgestaaten der SFRJ könne diese Frage ohne weiteres beantwortet werden. Schließlich führe auch die Gehörsrüge nicht zur Zulassung der Berufung. Die Ablehnung des vom VG als nicht erheblich angesehenen Beweisantrages sei durch das Prozeßrecht geboten gewesen.

II.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Bf. eine Verletzung von Art. 16 a Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 103 Abs. 1 GG.

Sie hätten bereits im Ausgangsverfahren behauptet, daß sie zum Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Urteils des VG die Staatsbürgerschaft der BRJ gehabt hätten. Das VG habe dies verneint und halte die Bf. für Staatenlose. Hierin liege ein Verstoß gegen die im Asylprozeß erforderliche Ermittlungstiefe. Das VG habe die Staatsangehörigkeit nicht aufgeklärt. Zum Zeitpunkt des Urteils habe es weder für die Republik Bosnien-Herzegowina noch für die BRJ neue Staatsbürgerschaftsgesetze gegeben. Die Frage nach der Staatsangehörigkeit der Bf. sei daher keineswegs eindeutig zu beantworten gewesen. Das VG verneine die Staatsbürgerschaft der Bf. für den Staat BRJ nur mit dem Argument, daß dieser Staat nicht »automatisch« und von der Völkergemeinschaft anerkannt Rechtsnachfolger der SFRJ geworden sei. Diese Argumentation sei juristisch falsch, mindestens nicht zwingend. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Urteils habe eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür gesprochen, daß die Bf. die Staatsangehörigkeit der BRJ gehabt hätten. So habe das Auswärtige Amt unter dem 17.2.1993 mitgeteilt, daß aus Serbien und Montenegro stammende Staatsangehörige von der neuen BRJ vermutlich als deren Staatsangehörige in Anspruch genommen würden. Dem Bf. zu 1 drohe als Staatsangehörigem der BRJ und desertiertem Berufsoffizier mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, die wegen eines an die albanische Volkszugehörigkeit anknüpfenden Politmalus politischer Verfolgung gleichzusetzen sei. Das VG habe die Bf. durch Ablehnung des Beweisantrags auch in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Nach der eigenen Auffassung des VG sei es auf die Staatsangehörigkeit der Bf. angekommen. Es hätte den Beweisantrag daher nicht ablehnen dürfen.

B.

1.

a)         Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde des Bf. zu 1 zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Bst. b, § 93 b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde des Bf. zu 1 ist mit der Rüge einer Verletzung von Art. 16 a Abs. 1 GG zulässig und im Sinne von § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet; die dafür maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das BVerfG bereits entschieden (vgl. BVerfGE 76, 143).

b)         Hingegen werden die Verfassungsbeschwerden der Bfin. zu 2 bis 4 nicht zur Entscheidung angenommen. Sie haben keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22). Sie sind unzulässig. Einen eigenen Asylanspruch haben die Bfin. zu 2 bis 4 nicht substantiiert dargelegt. Sie berufen sich lediglich auf den Vortrag des Bf. zu 1. Ein insoweit möglicher Anspruch auf Familienasyl (§ 26 AsylVfG) ist aber nicht als Grundrecht gewährleistet (vgl. BVerfG, NVwZ 1991, 978 mwN). Den Bfin. zu 2 bis 4 bleibt die Möglichkeit, im Falle einer Anerkennung des Bf. zu 1. als Asylberechtigter einen FoIgeantrag zu stellen.

2.         Offensichtlich begründet ist die Verfassungsbeschwerde des Bf. zu 1. Das Urteil des VG wird insoweit den aus Art. 16 a Abs. 1 GG folgenden Anforderungen an die Ermittlungstiefe im Asylverfahren nicht gerecht.

a)         Dem BVerfG obliegt es im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu prüfen, ob die mit dem Asylverfahren befaßten Behörden und Gerichte den Anforderungen des Art. 16 a Abs. 1 GG (in materieller Hinsicht und im Verfahren) Rechnung getragen haben. Zwar ist die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte; das BVerfG kann hier erst eingreifen, wenn dabei spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere der Fehler gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegt (vgl. BVerfGE 18, 85). Anders als bei der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht kann die verfassungsrechtliche Prüfung sich beim Asylgrundrecht aber nicht lediglich darauf beschränken, ob etwa die Auslegung und Anwendung des Asylverfahrensgesetzes auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung dieses Grundrechts beruht. Ob jemand asylberechtigt ist oder nicht, betrifft die unmittelbare Anwendung der Grundrechtsbestimmung des Art. 16 a Abs. 1 GG. Dementsprechend hat das BVerfG in bezug auf den Tatbestand »politisch Verfolgter« sowohl hinsichtlich der Ermittlung des Sachverhalts selbst als auch seiner rechtlichen Bewertung zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und Umfang ihrer Ermittlungen Art. 16 a Abs. 1 GG gerecht werden (vgl. BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20).

Ermittlungen zum Tatbestand »politisch Verfolgter« sind vom BVerfG daraufhin zu überprüfen, ob sie einen hinreichenden Grad an Verläßlichkeit aufweisen und auch dem Umfang nach, bezogen auf die besonderen Gegebenheiten im Asylbereich, zureichend sind (BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20).

b)         Das angegriffene Urteil des VG wird hiernach der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 16 a Abs. 1 GG insoweit nicht gerecht, als es eine weitere Sachaufklärung mit Blick auf die im Verfahren vorgetragene Staatsangehörigkeit des Bf. zu 1 zur BRJ (Serbien und Montenegro) unterlassen hat. Nach der Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden bestimmt sich aber regelmäßig die vom Gericht vorzunehmende Verfolgungsprognose (vgl. nur BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr. 20).

Es entspricht allgemein anerkannter Auffassung, daß sich die Staatsangehörigkeit einer Person in den grundsätzlich weiten Grenzen des Völkerrechts nach den Regelungen bestimmt, die jeder Staat selbst über seine Staatsangehörigkeit und deren Erwerb und Verlust aufstellt. Das Ermessen des Staates, diese Angelegenheiten zu regeln, wird durch das allgemeine Völkerrecht begrenzt. Danach darf jeder Staat seine Staatsangehörigkeit nur an Personen verleihen, die zu ihm in einer näheren tatsächlichen Beziehung stehen. Nach der Staatenpraxis und der Judikatur der Schiedsgerichte ist als eine solche Beziehung unter anderem die Abstammung von einem Staatsangehörigen oder die Geburt auf dem Staatsgebiet anerkannt. Die Staatsangehörigkeit kann aufgrund der Rechtsordnung des verleihenden Staates innerstaatlich wirksam sein, solange sie nicht von einem fremden Staat angefochten und auf sein Verlangen wieder entzogen wird (vgl. BVerfGE 1, 322; BVerfGE 37, 217).

Hiernach hätte das VG in seine Erwägungen die Möglichkeit einbeziehen müssen, daß die BRJ - nach ihrem innerstaatlichen Recht - den Bf. zu 1 als ihren Staatsangehörigen beansprucht. Dies konnte unabhängig von der Frage gelten, ob die BRJ Rechtsnachfolger der SFRJ geworden war. Zum Zeitpunkt des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestand jedenfalls die BRJ aus den jugoslawischen Teilrepubliken Serbien und Montenegro. Davon ist auch das VG ausgegangen. Mit Blick auf die im ehemaligen Jugoslawien existierende doppelte Staatsangehörigkeit (Staatsangehörigkeit der SFRJ und republikanische Staatsangehörigkeit zu einer der jugoslawischen Teilrepubliken) lag es nicht gänzlich fern, daß die BRJ jedenfalls die Personen als ihre Staatsangehörigen betrachten konnte, die auf dem Territorium der nunmehr die BRJ bildenden Teilrepubliken Serbien und Montenegro geboren wurden. Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 18.12.1992 (Stand: 15.11.1992) spricht davon, daß als Staatsbürger der BRJ diejenigen Staatsbürger des ehemaligen Jugoslawien gelten, die in Serbien und Montenegro geboren sind. Das ist bei dem Bf. zu 1 der Fall. Er ist in der zu Serbien gehörenden Provinz Kosovo, geboren.

c)         Bei weiterer Aufklärung der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse ist ein günstigeres Ergebnis für den Bf. zu 1, der eine asylrelevante Bestrafung wegen Desertion geltend macht, nicht ausgeschlossen.

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