Bayerisches Verwaltungsgericht München, 14. September 1993-M 21 ES 93.60097

Bayerisches Verwaltungsgericht München

Beschluß vom 14.9.1993 - M 21 ES 93.60097

Leitsatz der Redaktion:

Die Regelung über sichere Drittstaaten in Artikel 16 a Abs. 2 Grundgesetz bezieht sich nicht auf Asylsuchende, denen (möglicherweise) im Rahmen des Familienasyls Asyl gewährt werden muß.

Sachverhalt. Die Antragstellerin ist togoische Staatsangehörige und flog von Lomé über Brüssel nach München und kam dort am 2.8.1993 an. In Brüssel hatte sie sich einige Stunden im Transitbereich des Flughafens aufgehalten. Die Antragstellerin wollte als Touristin einreisen, wurde jedoch wegen Mittellosigkeit zurückgewiesen und flog am selben Tag nach Brüssel zurück. Am 3.8.1993 kam die Antragstellerin erneut nach München und stellte dort unmittelbar nach der Ankunft beim Bundesgrenzschutz einen Asylantrag. Ihr wurde die Einreise gemäß 18 a Abs. 1 Satz 6, § 18 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 26 a AsylVfG verweigert. Am 4.8.1993 wurde die Antragstellerin mit dem Flugzeug nach Brüssel zurückgeschickt. Dort hat sie inzwischen Asyl beantragt und hält sich im Transitbereich des Flughafens Brüssel auf. In dern Lager, in dem die Antragstellerin zur Prüfung ihres Asylantrags untergebracht ist, gilt sie noch nicht als in Belgien eingereist. Der Ehemann der Antragstellerin hat am 8.12.1992 in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt. Dieses Asylverfahren ist noch anhängig und nicht entschieden. Am 30.8.1993 beantragte die Antragstellerin durch ihren Bevollmächtigten im Wege des Antrags nach § 123 VwGO, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Asylantragstellerin die Einreise zu gestatten und den Asylantrag der Antragstellerin entgegenzunehmen und zu verbescheiden. Dem Antrag wurde durch das Verwaltungsgericht stattgegeben.

Aus den Gründen: S. 4‑7.

»II. Der Antrag nach § 123 VwG0 ist zulässig.

Das Bayer. Verwaltungsgericht München ist örtlich zuständig. Gemäß § 123 Abs. 2 VwG0 ist das Gericht der Hauptsache für den Erlaß einstweiliger Anordnungen zuständig. In der Hauptsache wendet sich die Antragstellerin gegen die Einreiseverweigerung vom 3.8.1993 durch die Grenzschutzstelle am Flughafen München und begehrt die Gestattung der Wiedereinreise. Gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 VwG0 ist für dieses Verfahren das Bayer. Verwaltungsgericht München örtlich zuständig. Danach ist in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylverfahrensgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat; ist eine örtliche Zuständigkeit danach nicht gegeben, bestimmt sie sich nach § 52 Nr. 3 VwGO. Da aufgrund des Aufenthalts eine örtliche Zuständigkeit nicht gegeben ist, bestimmt sich die Zuständigkeit nach § 52 Nr. 3 VwGO. Danach ist das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Verwaltungsakt erlassen wurde. Da der Verwaltungsakt am Flughafen München erlassen wurde, folgt daraus die Zuständigkeit des Bayer. Verwaltungsgerichts München. § 52 Nr. 2 Satz 4 VwG0 findet keine Anwendung, da die Antragstellerin zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland kein Visum benötigt (vgl. § 1 i. V. m. Anlage I der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes).

Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 123 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung bzw. vor Entscheidung in der Hauptsache eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei andauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes. Beide sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 3 ZPO).

Maßgeblich für die Entscheidung ist hinsichtlich des Anordnungsgrundes die Sach‑ und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes (vgl. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 9. Auflage, § 123, RdNr. 29 b). Es muß ein akuter, gegenwärtiger Nachteil bestehen oder drohen. Ein Anordnungsgrund liegt vor. Die begehrte Regelung ist für die Antragstellerin dringlich, da ihr von Belgien die Abschiebung nach Togo droht.

Die Antragstellerin kann sich auch auf einen Anordnungsanspruch berufen. Nach § 26 Abs. 1 AsylVfG wird der Ehegatte eines Asylberechtigten als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Ehe schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Mit der Regelung des § 26 AsylVfG wird allen von ihr erfaßten Familienmitgliedern ein einheitlicher asylrechtlicher Status nicht nur dann eingeräumt, wenn eine politische Verfolgung in jeweils eigener Person offenbleibt, sondern auch dann, wenn objektiv feststeht, daß Familienangehörige des nach Art. 16 a Abs. 1 GG Asylberechtigten nicht in eigener Person von politischer Verfolgung bedroht sind und ihnen ein Asylanspruch verfassungsrechtlich nicht zustünde. Insofern entfaltet § 26 AsylVfG eine über Art. 16 a Abs. 1 GG hinausgehende eigenständige Bedeutung und findet seine Rechtfertigung als einfach gesetzliche Begünstigung der Familie in Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. Schenk, Asylrecht und Asylverfahrensrecht mit Hinweisen auf die einschlägige Rechtsprechung). Das bedeutet, daß die Antragstellerin auch dann einen Asylanspruch gemäß § 26 AsylVfG haben könnte, wenn ihr selbst keine Asylgründe i. S. v. Art. 16 a GG zustünden, jedoch ihr Ehemann als Asylberechtigter anerkannt wird. Ob der Ehemann der Antragstellerin als Asylberechtigter anerkannt wird, steht aufgrund des noch laufenden Verfahrens (Az: D 1557902) nochnicht fest. Sollte jedoch der Ehemann der Antragstellerin als Asylberechtiger anerkannt werden, so steht der Antragstellerin als Ehefrau zumindest das Familienasyl i. S. v. § 26 AsylVfG zu, auf das sich die Antragstellerin, selbst wenn es in Belgien eine vergleichbare Vorschrift geben sollte, nicht berufen kann, da ihr Ehemann kein Asylverfahren in Belgien laufen hat.

Das Familienasyl i. S. v. § 26 AsylVfG wird auch nicht durch die Regelung der sicheren Drittstaaten in Art. 16 a Abs. 2 GG und § 26 a AsylVfG eingeschränkt. Nach Art. 16 a Abs. 2 GG kann sich auf das Asylrecht i. S. v. Art. 16 a Abs. 1 GG nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens der Rechtstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Einschränkung des Asylrechts bezieht sich lediglich auf das Asylrecht i. S. v. Art. 16 a Abs. 1 GG. Das Familienasyl i. S. v. § 26 AsylVfG geht jedoch über die Regelung des Art. 16 a GG hinaus, denn es ist nicht erforderlich, daß hinsichtlich der dort privilegierten Familienangehörigen eine politische Verfolgung vorliegen muß. Insoweit gibt § 26 AsylVfG ein über Art. 16 a Abs. 1 GG hinausgehendes Recht, das durch Art. 16 a Abs. 2 GG jedoch nicht eingeschränkt wurde. Eine Einschränkung dahingehend, daß auf das Familienasyl sich jemand nicht berufen könne, wer über einen sicheren Drittstaat eingereist ist, ist nicht erfolgt.

Damit kann die Antragstellerin nicht darauf verwiesen werden, daß sie bereits in Belgien Schutz vor Verfolgung finden konnte, da sie dort ein Asylverfahren durchführt. Dies gilt nur dann, wenn sich die Antragstellerin nicht auf das Familienasyl berufen könnte. Für den Fall, daß kein Familienasyl in Frage kommt, hat die Kammer den Anspruch, in Deutschland ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, abgelehnt (vgl. Verwaltungsgericht München Beschluß vom 7.9.1993 Az: M 21 ES 93.60053).

Dies wurde damit begründet, daß die Regelung über sichere Drittstaaten gemäß § 26 a AsylVfG darauf beruht, daß ein vor politischer Verfolgung Flüchtender in dem ersten Staat um Schutz nachsuchen muß, in dem ihm dies möglich ist. Außerdem muß es dem Ausländer möglich sein, nach Rückkehr in den sicheren Drittstaat, über den er eingereist ist, ein dort eingeleitetes Verfahren auf Schutzgewährung zu Ende zu führen oder ein noch nicht gestelltes Schutzersuchen nachzuholen. Die Drittstaatenregelung erschöpft sich insgesamt nicht in Feststellungen über den Reiseweg des Asylsuchenden, sondern sie hat die Rückkehr des Betroffenen in den Schutz bietenden Drittstaat zum Ziel (vgl. Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/4450, S. 20).

Zur Wahrung des Rechts auf Familienasyl i. S. V., § 26 AsylVfG war die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin die Einreise zu gestatten und einen Asylantrag entgegenzunehmen.

Nach alledem war dem Antrag mit Kostenfolge des §154 Abs. 1 VwG0 stattzugeben.«

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