Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Januar 1991-BVerwG 9 C 82.89

Bundesverwaltungsgericht, 15 Jan. 1991

Leitsatz (amtlich):

Die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative ist unter dem Aspekt des religiösen Existenzminimums nur dann zu verneinen, wenn die Aufrechterhaltung der religiösen Identität - hier in Form des »archaischen Gruppenzusammenhalts« von Jeziden in türkischen Großstädten - durch aktives Tun des Staats oder einer feindlich eingestellten Umwelt gefährdet ist.

Aus den Gründen:

I.

Der 1970 im Bezirk Mardin geborene Beigeladene ist türkischer Staatsangehöriger kurdischen Volkstums und jezidischen Glaubens. Er reiste am 19.10.1985 in die BR Deutschland ein und beantragte anschließend beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung berief er sich auf vielfältige Schwierigkeiten und Übergriffe, denen er und seine Familie von seiten seiner moslemischen Landsleute und der türkischen Sicher heitskräfte in seiner Heimatregion ausgesetzt gewesen seien, außerdem auf den ihm in der Türkei noch bevorstehenden Militärdienst, den er unter keinen Umständen ableisten wolle. Schließlich habe er die kurdische Freiheitsbewegung unterstützt. Mit Bescheid vom 17.2.1987 erkannte das Bundesamt den Beigeladenen als Asylberechtigten an.

Das VG hat die hiergegen erhobene Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten mit der Begründung abgewiesen, daß dem Beigeladenen bei der ihm noch bevorstehenden Ableistung des Wehrdienstes in der türkischen Armee asylerhebliche Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würden.

Auf die Berufung des Bundesbeauftragten hat das OVG das erstinstanzliche Urteil abgeändert und den Anerkennungsbescheid des Bundesamts aufgehoben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision macht der Beigeladene die Verletzung von Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG geltend.

II.

Die Revision des Beigeladenen ist unbegründet. Das angefochtene Urteil steht zwar teilweise mit Bundesrecht nicht im Einklang, erweist sich aber im Ergebnis als richtig (§ 144 Abs.4 VwG0).

Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob der Beigeladene seinen Heimatstaat wegen bestehender oder unmitelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat. Bei einer solchen Sachlage darf die Asylklage nur dann abgewiesen werden, wenn der Asylsuchende im Zeitpunkt der berufungsgerichtlichen Entscheidung bei einer Rückkehr in seinen eigenen Staat dort wieder Schutz finden kann, wenn er also vor (erneuter) politischer Verfolgung hinreichend sicher ist oder jedenfalls in anderen Landesteilen eine inländische Fluchtalternative besteht (vgl. BVerfGE 80, 315, 342 ff, 345, 350 = EZAR 201 Nr.20; BVerwGE 85, 139, 140 f = EZAR 202 Nr. 18). Das Berufungsgericht hat die Überzeugung gewonnen, daß der Beigeladene in den Städten der Westtürkei ungefährdet leben kann, so daß es nicht mehr darauf ankoam, ob ihm in seinem Heimatbezirk Mardin Verfolgung droht. Die Revision erhebt keine Verfahrensrügen, sondern beschränkt sich darauf, die Rechtsauffassung der Vorinstanz insbesondere bezüglich der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative als unrichtig anzugreifen. Diesen Erwägungen der Revision ist allerdings zu folgen.

Mit Recht stellt sich die Revision auf den Rechtsstandpunkt, eine Fluchtalternative bestehe nicht an einem Ort, an dem das Existenzminimum des andernorts Verfolgten nicht gesichert sei. Das OVG hält es für unerheblich, ob am Ort der inländischen Fluchtalternative die Gefahr eines Lebens unterhalb des Existenzminimums droht, solange die wirtschaftliche Notlage nicht auf eine dem Heimatstaat zurechenbare politische Verfolgung zurückzuführen ist. Eine drohende existenzvernichtende wirtschaftliche Notlage führt nach Auffassung der Vorinstanz nicht zur Asylanerkennung des von regionaler politischer Verfolgung Betroffenen, sondem es bleibt der Prüfung nach allgemeinem Ausländerrecht vorbehalten, ob ihm der Aufenthalt in der BR Deutschland aus humanitären Gründen zu gestatten ist. Diese Rechtsauffassung steht nicht mit der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung in Einklang. Zwar ist das Urteil des Senats vom 6.10.1987 (EZAR 203 Nr.4) noch offengelassen, ob die Verfolgungsfreiheit am Ort der inländischen Fluchtaltemative auch dann die Asylanerkennung hindert, wenn der Asylsuchende dort kein Existenzminimum findet und der Anspruch des Betroffenen in einem solchen Fall auf Schutz vor Abschiebung in das drohende Verderben reduziert wäre. Inzwischen hat das BVerwG ausgesprochen, daß die Annahme einer zumutbaren Fluchtalternative ausscheidet, wenn der Ausländer an dem Alternativort bei generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schießlich zum Tod führt (BVerwG, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr.104). Das BverfG verlangt für die Bejahung einer inländischen Fluchtalternative ebenfalls, daß der Asylsuchende in den dafür in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls auch dort keine Nachteile und Melahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr.20).

Die mit dieser Rechtsprechung nicht zu vereinbarende Rechtsansicht des Berufungsgerichts ist jedoch nicht entscheidungserheblich. Die Vorinstanz hat nämlich ungeachtet ihres rechtlichen Ansatzes die Möglichkeit für den Beigeladenen, in den Städten der Westtürkei sein wirtschaftliches Auskommen zu finden, bejaht. Insoweit ist das OVG den Auskünften des Auswärtigen Amts vom 2.8.1982, vom 8.4.1988 und vom 22.11.1988 gefolgt, wonach die Kurden als fleißige Arbeiter geschätzt werden. Für ihre Beschäftigung in Großstädten wie Ankara und Istanbul ist es - wie die Vorinstanz den ihr vorliegenden Berichten entnommen hat - nicht von Bedeutung, ob sie Jeziden sind, wenn es auch in Einzelfällen vorkommen könne, daß ein türkischer Arbeitgeber einen jezidischen Stellenbewerber wegen seiner Religionszugehörigkeit ablehne, wenn ihm diese bekanntgeworden sein sollte. Hierauf gestützt bat das Berufungsgericht unter der gebotenen Anlegung des herabgestuften Maßstabs dem türkischen Staat zurechenbare Beeinträchtigungen des Rechts auf ungehinderte berufliche und wirtschaftliche Betätigung der Jeziden ausgeschlossen. Hiergegen ist revisionsgerichtlich nichts zu erinnern. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.

Die Annahme einer zumutbaren Fluchtalternative stützt das Berufungsgericht des weiteren auf die Feststellung, es sei sehr unwahrscheinlich, daß Jeziden in den Städten der Westtürkei unmittelbar durch den Staat oder durch die moslemische Bevölkerung in einer die Menschenwürde verletzenden Weise an der Religionsausübung gehindert würden. Zu dieser Überzeugung ist die Vorinsstanz zum einen deshalb gelangt, weil die Jeziden ihren Glauben weitgehend im Verborgenen praktizieren und keine besonderen Sakralbauten benötigen, sondem sich in den Häusern ihrer Priester versammeln. Zum anderen entnimmt die Vorinstanz den Erkenntnisquellen, daß Jeziden im Alltagsleben nicht an der Einhaltung bindender Tabuvorschriften gehindert wären. Hiergegen erhebt die Revision ebenfalls keine Rügen.

Der geltend gemachte Asylanspruch ist auch nicht deshalb begründet, weil das Berufungsgericht weiter festgestellt hat, daß es möglicherweise - wie offenbar auch in den ursprünglichen jezidischen Siedlungsgebieten - in der Westtürkei keine für die mündliche Tradierung der Glaubensinhalte und gewisse Kulthandlungen der Jeziden notwendigen religiösen Führungspersonen gibt. Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind, damit das religiöse Existenzminimum als Voraussetzung für die Zumutbarkeit einer inländischen Fluchtalternative gewährleistet ist, bei der hier in Rede stehenden archaischen und von mündlicher Überlieferung geprägten Religionsform doe besonderen, schlechthin unverzichtbaren Voraussetzungen der Religionsausübung in den Blick zu nehmen: Für die Jeziden kann insoweit die Aufrechterhaltung einer Familienstruktur im Sinne eines für die Ausübung der Kulthandlungen notwendigen Gruppenzusammenhalts und, damit einhergehend, einer Verbindung mit einer Priesterfamitie in Betracht kommen (BVerfGE 81, 58, 66 f = EZAR 203 Nr.5). Das Berufungsgericht hat diesen Aspekt des archaischen Gruppenzusammenhalts als Grundlage jezididscher Religionsausübung gewürdigt, dessen Gefährdung aber deshalb für unbeachtlich gehalten, weil der Mangel an religiösen Führungspersonen in tatsächlicher Hinsicht mangels politischer Verfolgung auf dem eigenen Entschluß der »Scheichs« und »Pirs« zur Auswanderung beruht und dem türkischen Staat, der auch ihnen jedenfalls in der Westtürkei ein ungefährdetes Leben ermöglicht, daher nicht vorwerfbar ist. Damit wird das angegriffene Urteil dem vom BVerfG entwickelten Maßstab gerecht, der nicht dahin zu verstehen ist, daß jede Beeinträchtigung der besonderen Form der jezidischen Religionsausübung die Annahme einer zumutbaren Fluchtalternative hindert. Vielmehr muß diese Beeinträchtigung auf ein aktives Tun entweder des Staates oder einer feindlich eingestellten moslemischen Umgebung zurückzuführen sein. Denn das Asylrecht soll religiöse oder ethnische Minderheiten nicht vor einer allmählichen Assimilation als Folge eines langfristigen Anpassungsprozesses und damit die Jeziden nicht vor den Schwierigkeiten schützen, die für sie mit der Umstellung auf eine städtische Lebensweise verbunden sind. Wie das BVerfG hervorhebt (E 81, 58, 67 aaO), geben die damit einhergehenden Gefährdungen und Nachteile für die Aufrechterhaltung der religiösen Identität als solche noch keinen Anlaß für die Annahme einer auch die türkischen Städte erfassenden politischen Verfolgung. Allerdings ist nicht jeder »Anpassungsprozeß«, der zur Auflösung des archaischen Gruppenzusammenhalts unter den Jezieden führt, asylrechtlich unerheblich. Er kann die Annahme einer Verfolgungssicherheit ausschließen, wenn in den türkischen Stadten der Staat oder eine feindlich eingestellte moslemische Umgebung durch aktives, mit dem für alle geltenden Recht unvereinbares Handeln Jeziden daran hin Maß an Zusammenhalt in einer »Religionsfamilie« zu finden, welches sie zur Wahrung ihres religiösen Existenzminimums benötigen.

Anhaltspunkte für ein solches aktives Einwirken des Staates oder der moslemischen Bevölkerungsmehrheit auf die Jeziden hat das OVG nicht finden können. Es hatte daher auch keinen Anlaß zu der vom BVerfG des weiteren geforderten näheren Aufklärung, ob der notwendige staatliche Schutz gegenüber rechtswidrigen Übergriffen der moslemischen Bevölkerungsmehrheit in hinreichend verläBlicher Weise gewährleistet erscheint. Solche Ühergriffe können nach Ansicht des BVerfG darin bestehen, daß die Mitglieder von Jezidenfamilien bei der Entdeckung ihrer Religionszugehörigkeit körperliche Mißhandlungen oder vergleichbar schwerwiegenden menschenverachtenden Behandlungen durch ihre moslemische Umwelt ausgesetzt sind, daß sie aus ihren Wohnungen vertrieben werden oder sonstige rechtswidrige Maßnahmen von ähnlicher Intensität zu erleiden haben, mit der Folge, daß sich das unerläßliche Maß religiöser Kommunikation nicht herstellen oder nicht mehr aufrechterhalten läßt. Die Gefahr solcher Übergriffe von Moslems hat das Berufungsgericht verneint und zwar nicht nur dann, wenn die Jeziden sich nicht als solche zu erkennen geben. Diesem Aspekt, auf den die Annahme der Fluchtaltemative nicht gestützt werden kann (BVerfG 81, 58, 68 f aaO), hat das Berufungsgericht nur insoweit Raum gegeben, als die Jeziden bereits von ihrem Selbstverständnis her ihre Zeremonien von der Öffentlichkeit abgeschirmt durchführen und hierzu nicht erst durch eine feindselige Umwelt genötigt wären. Insofern liegt es hier anders als bei der Erörterung der beruflichen Chancen der Jeziden in der Westtürkei, die das OVG in erster Linie wegen der Beliebtheit der als felißig geltenden Kurden bei den Arbeitgebern, daneben aber auch - freilich nur in einer Hilfserwägung - deshalb als günstig eingeschätzt hat, weil es den Jeziden wegen des Charakters ihres Glaubens als »Geheimreligion« möglich und zumutbar sein dürfte, ihre Glaubenszugehörigkeit notfalls zu verheimlichen. Entscheidungstragend haben die Erkenntnisquellen dem Berufungsgericht die Gewißheit vermittelt, daß die Jeziden unter städtischen Bedingungen nicht durch eine feindselige Umwelt am Zusammenleben, in einer »Religionsfamilie« gehindert sind. Sie können ihren Glauben in moslemischer Umgebung praktizieren, ohne daß sie sich mit ihrem Glaubensverständnis unvereinbare Selbstbeschränkungen auferlegen müßten. Sofern es an religiösen Führungspersonen mangele, sei die Ursache in deren nicht verfolgungs-bedrängter Abwanderung zu suchen. Daß diese Feststellungen auf nicht ausreichend tatsächlichen Grundlagen beruhten, macht die Revision nicht geltend. Es ist auch nicht erkennbar, welche weiteren Erkenntnisquellen über die 83 in das Verfahren eingeführten, bis zum April 1989 fortgeschriebenen Auskünfte, Gutachten und Stellungnahmen noch zur Verfügung gestanden hätten.

Da das Berufungsgericht auch die Gefahr einer Einzelverfolgung des Beigeladenen beim Militärdienst ausgeschlossen und schließlich den vom Beigeladenen behaupteten Handlungen zur Unterstützung der »kurdischen Freiheitsbewegung« infolge der Unsubstantiiertheit des diesbezililichen Vortrags keine Anhaltspunkte dafür hat entnehmen können, daß sie den türkischen Behörden bekanntgeworden sein könnten, ist die Revision, die hiergegen wiederum keine Rügen erhebt, zurückzuweisen.

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