Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 05. Juli 1990-A 16 K 10836/89

Verwaltungsgericht Stuttgart

Im Namen des Volkes

Urteil

In der Verwaltungsrechtssache

vertreten durch die Eltern, Kläger Ziff. 1 und Ziff. 2, Kläger, Prozeßbevollm.: Rechtsanwälte Frey u. Koll., Bahnhofstr. 39, 7014 Kornwestheim,

gegen

1.         Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister des Innern, dieser vertreten durch den Leiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Rothenburger Str. 29, 8502 Zirndorf,

2.         Stadt Kornwestheim, Postfach 18 40, 7014 Kornwestheim, vertreten durch den Oberbürgermeister,

Beklagte,

beteiligt: Bundesbeauftragter für Asylangelegenheiten beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Rothenburger Str. 29, 8502 Zirndorf,

wegen Anerkennung als Asylberechtigte, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung

hat die 16. Kammer des Verwaltungsgeridhts Stuttgart aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 09. Februar 1990, 19. Juni 1990 und 05. Juli 1990 durch

den Richter am Verwaltungsgericht

Dr. Kratsch

als Einzelrichter

am 05. Juli 1990 für Recht erkannt:

Der Bescheid der Beklagten Ziff. 1 vom 22.05.1989 wird hinsichtlich des Klägers Ziff. 1 aufgehoben. Die Beklagte Ziff. 1 wird verpflichtet, den Kläger Ziff. 1 als Asylberechtigten anzuerkennen. Im übrigen wird die Klage gegen die Beklagte Ziff. 1 abgewiesen.

Der Bescheid der Beklagten Ziff. 2 vom 20.09.1989 wird aufgehoben.

Von den Gerichtskosten trägt die Klägerin Ziff. 2 2/10, die Klägerin Ziff. 3 1/10, die Beklagte Ziff. 1 4/10 sowie die Beklagte Ziff. 2 3/10. Von den außergerichtilchen Kosten des Klägers Ziff. 1 trägt die Beklagte Ziff. 1 2/3, die Beklagte Ziff. 2 1/3. Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin Ziff. 2 trägt die Beklagte Ziff. 2 1/3. Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten Ziff. 1 trägt die Klägerin Ziff. 2 3/10, die Klägerin Ziff. 3 1/10. Die außergerichtlichen Kosten im übrigen tragen die Beteiligten jeweils selbst.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 13. 09. 1957 geborene Kläger Ziff. 1 sowie die am 1.4.07.1965 geborene Klägerin Ziff. 2 - die Ehefrau des Klägers Ziff. 1 - sind polnische Staatsangehörige; die am 16. 02.1987 geborene Klägerin Ziff. 3 ihr gemeinsames Kind. Die Kläger sind am 22.09.1987 in das Bundesgebiet eingereist und haben am 25.09.1987 ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragt. In der schriftlichen Begründung gab der Kläger Ziff. 1 an, mit seiner Familie aus Polen ausgereist zu sein, weil er aufgrund seiner politischen Einstellung und seines, Engagements für die Solidarität als Feuerwehroffizier unter falschen Anschuldigungen in ein Disziplinarverfahren verwickelt wurde.

Im Rahmen der Vorprüfung wurden die Kläger am 02.01.1989 persönlich angehört. Dabei gab der Kläger Ziff. 1 an, seine Eltern hätten ihm mitgeteilt, in Polen sei gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Er sei Feuerwehroffizier und bis Dezember 1981 stellvertretender Vorsitzender der Solidarität in seiner Feuerwehrwache gewesen. In der Folgezeit habe er Informationen der Miliz über regimekritische Geistliche an die Solidarät weitergegeben. Dies sei staatlichen Stellen wohl im Juli 1987 bekannt geworden; mittlerweile sei auch sein Gewährsmann bei der Miliz vom Dienst suspendiert und mit einem Verfahren überzogen worden. Er selbst sei im Juli 1987 zum Chef des Personalbüros bestellt worden, der ihm mit Anklage gedroht habe. Er sei auch deshalb politisch mißliebig aufgefallen, weil er sich geweigert habe, der kommunistischen Partei beizutreten und politische Befehle (z.B. die Umrüstung von Feuerwehrfahrzeugen zum Einsatz bei Demonstrationen) mißachtet habe. Durch einen fingierten Korruptionsfall sei er, in ein Disziplinarverfahren verwickelt worden. Zwar sei er schließlich am 18.05.1987 von dem Vorwurf, ein Verschulden begangen zu haben, freigesprochen worden. Dennoch sei zu Unrecht die Disziplinarstrafe in eine Ordnungsstrafe umgewandelt worden; Rechtsmittel dagegen seien ohne Erfolg geblieben. Auch sei er Geheimnisträger gewesen und habe Zugang zu Informationen und Materialien gehabt, die Staats- und Dienstgeheimnisse darstellten. Er fürchte bei einer Rückkehr nach Polen eine Bestrafung wegen des Bruchs seines Treueids sowie einen Disziplinarprozeß, welcher dann nur ein verschleierter politischer Prozeß sei. Die Klägerinnen Ziff. 2 und Ziff. 2 machten eigene Verfolgungsgründe nicht geltend.

Durch Bescheid vom 22.05.1989 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab.

Mit Bescheid vom 20.09.1989 forderte die Beklagte zu 2 die Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin innerhalb eines Monats nach Eintreten der Bestandskraft über den Asylantrag zu verlassen, und drohte für den Fall der nicht fristgerechteh Ausreise die Abschiebung an.

Am 17.10.1989 haben die Kläger gegen beide Bescheide Klage erhoben. In der Klagebegründung wurden Verfahrensmängel bei der Anhörung geltend gemacht. Seine Angaben seien durch die Dolmetscherin nur teilweise übersetzt worden; er habe dem Protkoll daher eine Ergänzung beigefügt, die aber nicht beachtet worden sei. Er sei als Feuerwehroffizier Mitglied eines paramilitärischen Verbandes gewesen. Weil die Feuerwehr in Polen eng mit der Miliz zusammengearbeitet habe, sei er gezwungen gewesen, an vielen Aktionen gegen die Solidarität teilzunehmen. Dadurch habe er auch Informationen über geplante Milizaktionen frühzeitig mitbekommen und hätte so die Möglichkeit gehabt, die Opposition rechtzeitig vor diesen Aktionen zu warnen. Die Entscheidung über seine Flucht habe er getroffen, da er erfahren habe, daß seine regimefeindlichen Aktivitäten aufgedeckt worden seien.

Die Kläger beantragen, den Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 22.05.1989 aufzuheben und die Beklagte zu 1, zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen; ferner, den Bescheid der Beklagten zu 2 vom 20.09.1989 aufzuheben.

Die Beklagten beantragen jeweils, die Klage abzuweisen.

Der beteiligte Bundesbeauftragte hat sich am Verfahren beteiligt, ohne einen Antrag zu stellen.

Die Kammer hat durch Beschluß vom 16.01.1990 den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

In der mündlichen Verhandlung vom 09.02., 19.06. und 05.07.1990 haben die Kläger im wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen bestätigt. Der Kläger Ziff. 1 gab an, er sei als Feuerwehroffizier bei der vorbeugenden Brandbekämpfung eingesetzt worden; auch sei er für eine Antiterrorgruppe ausgebildet worden. Schließlich sei er Feuerwehrkommandant des Warschauer Stadtbezirkes Zoliborz gewesen, wo sich. auch militärische Objekte befänden. Bei den geheimen, Dienstbesprechungen mit der Miliz habe er, Kenntnis erlangt z.B. über Aktionen gegen Druckereien der Solidarität oder Parolen von Polizeispitzeln; diese Informationen habe er über Priester (z.B. den später ermordeten Popieluszko) an die Solidarität weitergegeben. Dies sei ein Verstoß gegen Geheimhaltungsvorschriften gewesen.

Durch ein anonymes Schreiben eines anderen polnischen Asylbewerbers sei er in den Verdacht geraten, in Deutschland Militärobjekte zu fotografieren. Daraufhin sei er vom deutschen Verfassungsschutz observiert worden. Der deutsche Verfassungsschutz habe sich auch bei anderen polnischen Asylbewerbern, darunter auch wohl dem anonymen Anzeigenerstatter, über ihn erkundigt. Am 08.03.1990 seien schließlich zwei Beamte des Verfassungsschutzes in Zivil zu ihm gekommen und hätten sich ca. vier Stunden mit ihm unterhalten. Dabei sei ihm auch das anonyme Schreiben gezeigt worden. Er sei von den Beamten auch nach seiner beruflichen Tätigkeit gefragt worden. Um den Verdacht einer Tätigkeit für östliche Geheimdienste auszuräumen und seine Glaubwürdigkeit zu verstärken habe er detaillierte Auskünfte gemacht. Insbesondere habe er Aussagen über Angehörige der polnischen Sicherheitsbehörden gemacht. Er sei als Brandvorbeugungsoffizier auch für das polnische Schulungszentrum für Spionagetätigkeit zuständig gewesen und habe dieses geheime Objekt daher genau gekannt. Auch darüber habe er Angaben gemacht.

Der vermutliche Urheber der anonymen Anzeige sei inzwischen nach Polen zurückgekehrt; vor der Rückkehr habe er aber dem Kläger gedroht, er werde ihn in Polen erledigen und dafür sorgen, daß er ins Gefängnis komme. Die noch in Polen lebende Mutter des Klägers habe inzwischen von früheren Arbeitskollegen erfahren, daß sich der polnische Geheimdienst für den Kläger interessiere, so seien z.B. Kollegen vorgeladen und nach ihm ausgefragt worden. Von einem Kollegen, dessen Frau die Tochter eines Generals im Innenministerium sei, habe seine Mutter erfahnen, daß die entsprechende Untersuchungsabteilung des Innenministeriums seinen Fall bearbeite. Der Kläger befürchtet daher, daß derjenige, der ihn hier anonym angezeigt hat, nun auch in Polen den Behörden mitgeteilt habe, der Kläger arbeite mit dem westdeutschen Geheimdienst zusammen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch eine Auskunft des Auswärtigen Amtes in Bonn über die Frage, ob der Kläger wegen seiner vorgetragenen Tätigkeit für die Solidarität (er habe als Oberstleutnant der Feuerwehr über Priester geheime Instruktionen der Miliz an die Solidarität weitergeleitet) nach einer Rückkehr nach Polen strafrechtliche Verfolgung oder sonstige Verfolgungsmaßnahmen zu gewärtigen hat. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29.06.1990 ist nach Auffassung des Auswärtigen Amtes die angebliche Weitergabe von Kenntnissen über Einsätze der Sicherheitsorgane an die Solidarität durch den Kläger kein Grund, der diesen bei einer Rückkehr im heutigen Zeitpunkt einer politischen oder strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Art. 3 und 10 des Dekrets von, 27.12.1974 über den Dienst des Feuerwehrbediensteten würden keine ausdrücklichen Hinweise auf Geheimhaltungspflichten beinhalten. Generell wird darauf hingewiesen, daß infolge der politischen Liberalisierung des Landes Repressionen der vom Kläger vorgetragenen Art sehr unwahrscheinlich erscheinen. Im konkreten Fall komme hinzu, daß der Kläger für sich in Anspruch nehme, seine Tätigkeit zugunsten der Solidarität ausgeübt zu haben; aufgrund der starken Stellung der Solidarität würden möglicherweise eingeleitete Verfahren unter dem Druck der Presse und der öffentlichen Meinung mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit nicht zu einer Verurteilung führen.

Das Gericht hat verschiedene Auskünfte, Stellungnahmen und Presseberichte zur politischen Lage in Polen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Hierzu wird auf die Sitzungsniederschrift vom 05.07.1990 verwiesen. wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidunqsgründe:

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens von Beteiligten über die Sache verhandeln und entscheiden, da in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwG0).

Die zulässige Klage des Klägers Ziff. 1 gegen die Beklagte zu 1 ist begründet. Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers Ziff. 1 zu Unrecht abgelehnt. Der Kläger Ziff. 1 hat einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter.

Nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Sie sind in dem im Asylverfahrensgesetz vom 16.07.1982 (BGBl. I S. 946) i.d.F. vom 06.01.1987 (BGBl. I S. 89) - AsylVfG - vorgesehenen Verfahren auf Antrag als Asylberechtigte anzuerkennen, sofern sie nicht bereits in einem anderen Land Schutz vor Verfolgung gefunden haben. Da der Begriff des politisch Verfolgten in Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG mit dem Begriff des politischen Fiüchtlings im Sinne des Art. 1 A Nr.- 2 Genfer Konvention bei sachgerechtem Verständnis im wesentlichen überpeinstimmt (BVerwGE 49, 202), ist politisch verfolgt, wem in seinem Heimatstaat Verfolgungsmaßnahmen wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung drohen. Die kann in einer Gefahr für Leib und Leben oder in Beschränkungen der persönlichen Frelheit bestehen Zu dem asylrechtlich geschützten Bereich der persönlichen Freiheit gehören grundsätzlich auch die Rechte auf Religionsausübung und beruflich und wirtschaftl iche Betätigung. Soweit nicht eine unmittelbare Gefahr für Leib, Leben oder persönliche Freiheit besteht, können Beeinträchtigungen der bezeichneten Rechtsgüter allerdings ein Asylrecht nur dann begründen, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben. Das Asylrecht wegen politischer Verfolgung soll jedenfalls nicht allgemein jedem, der in seiner Heimat benachteiligt wird und in materieller Not leben muß, die Möglichkeit eröffnen, seine Heimat zu verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland seine Lebenssituation zu verbessern.

Der Anspruch auf asylrechtliche Anerkennung ist begründet, wenn dem Asylbewerber in dem für die Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts aufgrund einer auf absehbare Zeit ausgerichteten Zukunftsprognose wegen des geltend gemachten Verfolgungsanlasses bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so daß es ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwGE 67, 314). Hat. der Asylbewerber schon einmal politische Verfolgung erlitten, kann ihm, asylrechtlicher Schutz allerdings nur dann versagt werden, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahm en mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, d.h. keine Anhaltspunkte vorliegen, die die Möglichkeit abermals einsetzender Verfolgung als nicht ganz entfernt erscheinen lassen, und sich eine Wiederholungsverfolgung ohne ernsthaften Zweifel an der Sicherheit des Asylbewerbers ausschließen läßt (BVerfGE 54, 341, 361; BVerwGE 70, 169; BVerwG Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 54).

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Kläger Ziff. 1 hat glaubhaft vorgetragen, daß er als Feuerwehroffizier entscheidende Informationen über den Einsatz der Sicherheitskräfte an die damals verbotene Solidarität weitergegeben hat und Annahmen hatte, daß dies den staatlichen Stellen bekannt geworden war. Bei dieser Sachlage mußte er damit rechnen, verhaftet und mit einem Verfahren überzogen zu werden.

Zwar erscheint es nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.06.1990 an die erkennende Kammer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, daß der Kläger Ziff. 1 wegen dieser Vorgänge bei einer Rückkehr nach Polen jetzt noch eine strafrechtliche Verurteilung zu befürchten hätte.

Die hinreichende Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung nach Art. 124 § 1 polnisches StGB ergibt sich nunmehr aber aus der Verstrickung des Klägers in nachrichtlichendienstliche Tätigkeiten. Dabei ist nach dem glaubwürdigen Vortrag des Klägers Ziff. 1 in der mündlichen Verhandlung vom 05.07.1990 nicht er selbst bei den deutschen Verfassungsschutzbehörden vorstellig geworden, um sich selbst die Voraussetzung für seine Anerkennung als Asylberechtigter zu verschaffen (§ 1 a Asylverfahrensgesetz); vielmehr ist er durch ein anonymes Schreiben bei den deutschen Verfassungsschutzbehörden in Verdacht geraten, den es durch entsprechende Aussagen zu beseitigen galt. Da die deutschen Verfassungsschutzbehörden bei polnischen Landsleuten - möglicherweise auch dem anonymen Anzeigenerstatter - Erkundigungen eingezogen haben, erscheint es durchaus möglich, daß auch den polnischen Nachrichtendiensten die Kontaktaufnahme des Klägers Ziff. 1 mit dem deutschen Verf assungsschutz - einem fremden Nachrichtendienst im Sinne des Art. 124 § 1 polnisches StGB - bekannt geworden ist.

Der Kläger ist durch seine berufliche Stellung als Brandvorbeugungsoffizier und Feuerwehrkommandant des Warschauer Stadtbezirks Zoliborz im Besitz von Kenntnissen, die für den polnischen Staat bedeutsame Geheimnisse aus dem militärischen und Sicherheitsbereich darstellen. Wenn der Kläger auch seine Kenntnisse über militärische Anlagen nicht weitergegeben hat, liegt doch nahe, daß er sich bei einer Rückkehr nach Polen einem entsprech enden Verdacht ausgesetzt sähe. Auch die Weitergabe von Informationen über das nachrichtendienstliche Schulungszentrum dürfte den Kläger Ziff. 1 in die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung bringen, da die Sicherheit oder andere wichtige Interessen des polnischen Staates gefährdet sein können (vgl. dazu Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Ansbach vom 18.10.1989, an das VG Braunschweig vom 19.03.1990, an das VG Stuttgart vom 28.03.1990). Eine Verurteilung nach Art. 124 § 1 polnisches StGB würde einen Strafausspruch einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren oder - wenn auch äußerst unwahrscheinlich - der Todesstrafe zur Folge haben können. Die Amnestieregelung vom.11.12.1989 findet auf Spionage (Art. 124 § 1 polnisches StGB) keine Anwendung (Gutachten von Frau Weigand an VG Köln vom 28.02.1990).

Derartige strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen wären auch dem Bereich "politischer Verfolgung" im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG zuzurechnen (Kanein, Ausländerrecht, 4. Aufl. 1988, GG/GK RdNr. 62). Nach den überzeugenden Ausführungen des Klägers Ziff. 1 in der mündlichen Verhandlung vom 05.07.1990 hatten seine Angaben gegenüber den deutschen Verfassungsschutzbehörden neben dem Zweck, sich vom Verdacht einer geheimdienstlichen Tätigkeit für polnische Stellen zu reinigen, auch die Motivation, den polnischen Geheimdiensten als potentiellen Repressionsmitteln noch vorhandener Anhänger der "alten Ordnung" in Verwaltung und Sicherheitskräften Nachteile zuzufügen.

Dagegen ist die zulässige Klage der Klägerinnen Ziff. 2 und Ziff. 3 gegen die Beklagte Ziff. 1 unbegründet. Die Klägerinnen Ziff. 2 und Ziff. 3 haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylbe rechtighte. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen daher nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 4 Satz 1 VwG0). Wie sie selbst vortragen, machen sie keine eigene politische Verfolgung geltend, sondern berufen sich auf die Tätigkeit des Klägers Ziff. 1. Es ist nicht ersichtlich, daß die Klägerinnen Ziff. 2 und Ziff. 3 bei einer Rückkehr nach Polen wegen der oben dargestellten Vorgänge um den Kläger Ziff. 1 vom polnischen Staat verfolgt werden könnten, da inzwischen die polnischen Justizbehörden um rechtsstaatliche Strukturen und Vorgehensweisen bemüht sind (vgl. im einzelnen Weigand, Gutachten für VG Köln vom 28.02.1990, S. 7 f.).

Zulässig und begründet ist die Klage gegen die Beklagte Ziff. 2. Für den Kläger Ziff. 1 ergibt sich dies schon aus § 29 AsylVfG. Die Klägerinnen Ziff. 2 und, Ziff. 3 können zwar eine Aufenthaltserlaubnis nicht nach § 29 AsylVfG beanspruchen, die Ausländerbehörde hat aber zu prüfen, ob ihnen als Ehefrau und minderjähriges Kind eines anerkannten Asylberechtigten nach allgemeinem Ausländerrecht unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG der Aufenthalt zu gestatten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, § 100 ZPO und entsprechender Anwendung von § 162 Abs. 3 VwGO. Es besteht keine Veranlassung, die außergerichtlichen Kosten des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten für erstattungsfähig zu erklären.

Die Berufung war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 AsylVfG vorliegt.

Rechtsmittelbelehrung

Die Nichtzulassung der Berufung kann selbständig durch Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils angefochten werden. Die Beschwerde ist beim Verwaltungsgericht Stuttgart, Augustenstr. 5, 7000 Stuttgart 1, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Innerhalb Beschwerdefrist muß die grundsätzliche Bedeutung Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts oder des gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes, von der dieses Urteil abweicht, dargelegt werden, oder der Verfahrensmangel im Sinne von § 138 VwGO bezeichnet werden; das angefochtene Urteil ist zu bezeichnen.

gez. Dr. Kratsch

Beschluß vom 05. Juli 1990

Mitwirkend:

Richter am VG Dr. Kratsch als Einzelrichter

Der Streitwert wird gemäß den §§ 25 Abs. 1, 13 Abs. 1 GKG und § 5 ZPO analog auf DM 15. 000, --

festgesetzt (für die Klage des Klägers Ziff. 1 gegen die Beklagte Ziff. 1 DM 6.000,--, für die Klage der Klägerin Ziff. 2 gegen die Beklagte Ziff. 1 DM 3.000,--, für die Klage der Klägerin Ziff. 3 gegen die Beklagte Ziff. 1 DM 1. 500, für die Klage des Klägers Ziff. 1 gegen die Beklagte Ziff. 2 DM 3.000,--, für die Klage der Klägerin Ziff. 2 gegen die Beklagte Ziff. 2 DM 1.500,--; vgl. dazu VGH Bad.- Württ., Beschl. vom 02.05.1988, VB1BW 1988, 246).

Gegen diesen Beschluß ist die Beschwerde nach Maßgabe des § 25 Abs. 2 GKG zulässig.

gez. Dr. Kratsch

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