Verwaltungsgericht Sigmaringen, Beschluß vom 17.2.1994 - A 3 K 14668/93

Verwaltungsgericht Sigmaringen

Beschluß vom 17.2.1994 - A 3 K 14668/93

Leitsatz des Einsenders:

Mangels einer Spezialregelung ist für einen Wiedereinsetzungsantrag eines Asylbewerbers in die einwöchige Klagefrist der §§ 74 Abs. 1, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG 93 allein § 60 VwGO maßgeglich. Erfüllt der Antragsteller die Voraussetzungen des § 60 VwGO, so ist ihm auch dann Wiedereinsetzung in die einwochige Klagefrist zu gewihren, wenn seit Wegfall des Hindernisses mehr als eine Woche vergangen ist.

Sachverhalt. Siehe Entscheidungsgrände.

Aus den Gründen:

»I.         Der am 1.2.1971 geborene Antragsteller ist liberianischer Staatsangehöriger. Am 4.11.1992 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 6.9.1993 als offensichtlich unbegründet ab und stellte gleichzeitig fest, daß, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG offensichtlich nicht gegeben seien. Ferner stellte die Behörde des weiteren fest, daß Abschiebungshinctanisse gemäß § 53 AuslG nicht vorlägen. Ferner forderte das Bundesamt den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte die Abschiebung an. Gegen diesen am 9.1.1993 durch Niederlegung bei der Post zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 8.12.1993 Klage beim Verwaltungsgericht Sigmaringen. Mit dem gleichzeitig gestellten Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wird die Anordmung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gengen die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung erstrebt.

Dem Gericht haben die einschlägigen Behördenakten vorgelegen; auf diese sowie die Gerichtsakten wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.

II.          Der Antrag nach § 80 Abs 5 VwGO ist zulässig.

Nach der Fassung des § 80 Abs. 1 VwGO tritt die aufschiebende Wirkung grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Zulässigkeit und die Begründetheit des eingelegten Rechtsbehelfs ein (vgl. Kopp, VwGO, 9. Auflage 1992, § 80 Rdnr. 29). Dieser Grundsatz erfährt gewisse Einschränkungen; u. a. darf der eingelegte Rechtsbehelf nicht ganz offensichtlich unzulässig sein (VGH Baden-Württemberg VBIBW 1988,20).

Im vorliegenden Verfahren ist die Klage zwar offensichtlich verspätet erhoben worden; der vom Antragsteller gestellte Wiedereinsetzungsantrag in die Klagefrist erscheint jedoch aussichtsreich. Nach § 60 Abs. 1 VwGO wird demjenigen auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Gesetzliche Frist im genannten Sinne ist die einwöchige Klagefrist der §§ 74 Abs. 1, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG. Unstreitig wurde die genannte Klagefrist nicht eingehalten, nachdem die Zustellung des mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheids des Bundesamts vom 6.9.1993 durch Niederlegung bei der Post am 9.11.1993 ordnungsgemäß erfolgt war. Grundsätzlich wäre deshalb mit Ablauf des 16.11.1993 Bestandskraft des genannten Bescheids eingetreten.

Durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherung vom 5.1.1994 hat der Antragsteller jedoch glaubhaft gemacht, daß er ohne Verschulden verhindert war, die Klagefrist einzuhalten. Danach habe der Brieftriäger den Benachrichtigungsschein über den Zustellungsversuch dem Ziminer-Nachbarn des Antragstellers übergeben; dieser habe aber zunächst vergessen, den Schein dem Antragsteller auszuhändigen. Erst am 29.11.1993 habe der Antragsteller den Benachrichtigungsschein erhalten. Noch am selben Tage habe er die Sendung beim zuständigen Postamt abgeholt.

Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist der Wiedereinsetzungsantrag binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Nachdem am 29.11.1993 mit der Aushändigung des Benachrichtigungsscheines an den Antragsteller das Hindernis weggefallen war, hat der Antragsteller mit seinem Wiedereinsetzungsantrag vom 8.12.1993 die genannte Zwei-Wochen-Frist beachtet; auch die in Satz 2 der letztgenannten Bestimmung geforderte Glaubhaftmachung ist erfolgt.

Schließlich hat der Antragsteller auch innerhalb der Ancragsfrist von zwei Wochen die versäumte Rechtshandlung nachgeholt; d. h. am 8.12.1993 Klage beim Verwaltungsgericht erhoben.

Der Begründetheit des Wiedereinsazungsgesuchs des Antragstellers kann auch nicht entgegengehalten werden, daß der Antragsteller auf diesem Wege zu einer faktisch zweiwöchigen Klagefrist gelangt und die vom Gesetzgeber des Asylverfahrensgesetzes gewollte einwöchige Klagefrist der §§ 74 Abs. 1, 36 Abs. 3 Satz 1 umgangen ist. Insbesondere kann vom Antragsteller nicht gefordert werden, daß er nach Wegfall des Hindernisses am 29.11.1993 innerhalb einer Woche, also bis zum Ablauf des 6.12.1993, Klage erheben mußte. Vielmehr ist seine erst am 8.12.1993 erhobene Klage als fristgerecht zu warten. Bei dieser Feststellung wird nicht verkannt, daß der Antragsteller besser gestellt wird als ein Ausländer, der nach Zustellung des Bescheids innerhalb einer Woche Klage erheben muß. Diese Besserstellung mag zwar systeinfremd erscheinen, da der Gesetzgeber des, Asylverfahrensgesetzes bewußt sehr kurze Rechtsbehelfsfristen, insbesondere bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen, normiert hat. Der vorliegende Fall zeigt, daß der Bundesgesetzgeber eine Harmonisierung der Wiedereinsetzungsfrist des § 60 Abs.2 VwGO mit der einwöchigen Klagefrist des Asylverfahrensgesetzes nicht vorgenommen hat. Mangels einer speziellen Regelung der Wiedereinsetzung im Asylverfahrensgesetz ist deshalb für einen Wiedereinsetzungsantrag in die einwöchige Klagefrist der §§ 74 Aha. 1, 36 Abs. 3 Satz 1 AsyVfG allein § 60 VwGO maßgeblich. Erfüllt der Ausländer die dort normierten tatbestandlichen Voraussetzungen, so ist ihm auch dann Wiedereinsetzung in die einwöchige Klagefrist zu gewähren, wenn seit Wegfall des Hindernisses mehr als cm Woche vergangen ist.

Der Antrag ist auch überwiegend begründet.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für den vorliegenden Verwaltungsrechtsstreit ist grundsätzlich das AsylVfG i. d. F. vom 30.6.1993 (BGBLIS. 1062) - AsylVfG 1993 -, obwohl der Antragsteller schon vor Inkrafttreten des Gesetzes am 1.7.1993 einen Asylantrag gestellt hat (§ 87a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG 1993).

In einem Verfahren nach den §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 3 Satz 1, 75 AsylVfG 1993 hat das Verwaltungsgericht zur Gewährleistung eines efektiven Rechtsschutzes zu prüfen, ob der Asylantrag wirklich offensichtlich unbegründet oder unbeachtlich ist und ob diese Form der Ablehnung weiterhin Bestand haben wird. Die gerichtliche Überprüfung der vom Bundesamt getroffenen Feststellung offensichtlicher Unbegründetheit/ Unbeachtlichkeit des Asylbegehrens hat dabei aufgrund der als asylerheblich vorgetragenen und zu erkennenden Tatsachen und in Anwendung des materiellen Asylrechts zu erfolgen. Ein Asylantrag ist dann unbeachtlich bzw. offensichtlich unbegründet, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt (BVerfG InfAuslR 1992, 75).

Es kann offenbleiben, ob das Vorbringen des Antragstellers glaubhaft ist. Jedenfalls kann ihm auch bei drohender umittelbarer oder mittelbarer Verfolgung politisches Asyl nicht gewährt werden. Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist die effektive Gebieugewalt des Staates i. S wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Daran fehlt es beim offenen Bürgerkrieg dann, wenn in dem umkämpften Gebiet (oder in umkämpften Gebieten) der Staat die Gebietsgewalt verloren hat oder zunehmend verliert (vgl. BVerfGE 80, 315, 340 = InfAusIR 1990, 21; BVerfG, Beschluß vom 7.11.1990, NVwZ 1991 Seite 771). Soll die Asylgewährung Schutz vor einem bestimmt gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt bieten, so liegt darin als Kehrseite beschlossen, daß Schutz vor den Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt nicht durch Art 16 Abs. 2 Satz 2 GG versprochen ist.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen gibt es derzeit in Liberia keine staatliche Macht mehr, die eine übergreifende Ordnung gewährleisten könnte. Der Antrag des Antragstellers auf Anerkennung als Asylberechtigter erscheint deshalb als offensichtlich unbegründet, da die von ihm befürchtete Verfolgung oder erneute Zwangsrekrutierung durch die Rebellentruppen des Charles Taylor keine politische Verfolgung darstellt; auf die diesbezüglichen Ausführungen im Bescheid vom 6.9.1993 kann in vollem Umfang Bezug genommen werden (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

Der Aussetzungsantrag des Antragstellers ist aber deshalb überwiegend begründet, da eine Abschiebung nach Liberia derzeit nicht vollzogen werden darf. Der Ausländer darf nicht mit einer Abschiebungsandrohung überzogen werden, wenn ihm die Rückkehr in sein Heimatland einer vor der Wercordnung des Grundgesetzes, insbesondere der unbedingten Achtung der Menschenwürde, nicht zu rechtfertigenden Gefahr aussetzen würde. Nach § 53 Abs. 4 AusIG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, sobald sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 ergibt, daß die Abschiebung unzulässig ist Zu den fundamentalen Menschenrechten in diesem Sinne zählen das Recht auf Leben und das Verbot unmenschlicher Behandlung (Am 2 Abs. 1 Satz 1; 3 EMRK). Eine solche dem Erlaß einer Abschiebungsandrohung entgegenstehende Sachlage ist nicht erst dann gegeben, wenn ein eindeutiger Beweis für eine zu erwartende menschenrechtswidrige Behandlung des Betroffenen vorhanden ist. Eine derartige Bedrohung droht vielmehr grundsätzlich bereits dann, wenn eine Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit besteht; der Betroffene mit ihr nach den vorliegenden Umständen also ernsthaft rechnen muß. Allgemeine Risiken einer Bürgerkriegssituation können zwar grundsätzlich nur im Rahmen der §§ 54 Abs. 6 Satz 2, 54 AusIG Berücksichtigung finden. Sprechen jedoch konkrete und ernsthafte Gründe dafür, daß der Ausländer im Einzelfall Opfer dieser Gefahrensituation wird, etwa in einem echten Kampfgebiet nahezu jedermann jederzeit Opfer werden kann oder weil solche Ereignisse derart häufig sind, daß sie sozusagen zur Tagesordnung gehören, ergibt sich ein zwingendes Abschiebungshindernis nach Art 2 und 3 EMRK.

Nach den der Kammer vorliegenden neuesten Erkenntnisquellen. (vgl. Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 17.6.1993, 23.4.1993 und 11.2.1993; Stellungnahmen des Instituts für Afrika-Kunde vom 26.1.1993) hält der Bürgerkrieg in Liberia mit unverminderter Schärfe an. Die NBFL unter Taylor kontrolliert immer noch ca. 50-60% des Landes. Personen, die in deren Gebiet gelangen, müssen konkret mit Schaden an Leib und Leben rechnen. Bereits Anfang November 1992 wurden von der NBFL 600 bis 700 Zivilisten massakriert. Auch die Abschiebung in einen anderen Teil von Liberia erscheint derzeit ausgeschlossen. Die Sicherheit des Antragstellers wäre selbst in den von den ECOMOG-Friedenstruppen beherrschten Landesteilen nicht gewährleistet. Denn zu deren Auftrag gehört nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16.2.1993 nicht der Schutz von Einzelpersonen vor Verfolgung oder die Verhinderung von Stammesrivalitäten, sondern die Befreiung des Landes von den Taylor-Truppen und die Wiederherstellung von Recht und Ordnung als Ausgangsbasis für zu scbaffende rechtistaatliche Verhältnisse.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.6.1993 ist es am 5./6.6.1993 im Flüchtlingslager Harbel erneut zu einem Blutbad gekommen, bei welchem mehr als 350 Menschen getötet und mehr als 700 z. T. schwer verletzt und verstümmelt worden sind. Urheber des Massakers dürften marodierende NBFL-Einheiten gewesen sein, die außerhalb der Befehlsgewalt Taylors standen. Auch nach diesem neusten Bericht des Auswärtigen Amtes gibt es selbst in der Hauptstadt Monrovia durch die dort stationierten ECOMOG-Truppen lediglich einen eingeschränkten Schutz vor Menschenrechtsverletzungen aller Art. Ferner wird darauf hingewiesen, daß eine inländische alternative Verbleibensmöglichkeit für von Verfolgung Bedrohte schwer zu finden ist. Bei dem vom Auswärtigen Amt zitierten Massaker vom Juni 1993 kommt erschwerend hinzu, daß dieses auf einer stillgelegten Gummiplantage nur 50 km außerhalb der Hauptstadt Monrovia stattgefunden hat. Diese geringe Distanz zeigt, daß die ECOMOG-Truppen auch im Bereich der Hauptstadt Monrovia noch keineswegs >Herr der Lage sind (vgl. die Presseherichte vom 8.6.1993 in der Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Süddeutschen Zeitung). In der Einschätzung der derzeitigen Menschenrechtssituation in Liberia schließt sich die Kammer ferner den Entscheidungen des VG Karlsruhe und VG Stuttgart (Urteil vom 4.3.1993 - A 9 K 31578/92 - bzw. Urteil vom 18.5.1993 - A 14 X 105699/93 -) an. Angesichts dieser Sach- und Rechtslage ist dem Antragsteller somit derzeit eine Abschiebung in keinen Teil seines Heimatlandes zumutbar, zumal da auch der in Benin ausgehandelte Friedensvertrag für Liberia im Juli 1993 gescheitert ist.

Da einer Abschiebung des Antragstellers in andere Länder als nach Liberia nichts im Wege steht, die Androhung der Abschiebung somit insoweit rechtmäßig ist (vgl. § 50 Abs. 3 Satz 3 AuslG), war die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu beschränken (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 9.11.1992 - 1 S 2165/92 -, InfAusIR 1993, 90).«

Disclaimer:

This is not a UNHCR publication. UNHCR is not responsible for, nor does it necessarily endorse, its content. Any views expressed are solely those of the author or publisher and do not necessarily reflect those of UNHCR, the United Nations or its Member States.