Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 2. September 1997 - BVerwG 9 C 70.91

Bundesverwaltungsgericht, 2 Sept. 1997

Leitsatz (amtlich):

Ein Ausländer hat auch dann keinen Anspruch auf Asyl, wenn er in einem verschlossenen und verplombten LKW über (irdend)einen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist.

Aus den Gründen:

I.

Der 1959 geborene Kl. ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er verließ sein Heimatland Mitte April 1994 in einem Lastkraftwagen, der nach seinen Angaben fünf Tage später in Deutschland eintraf. Dort beantragte der Kl. Ende April 1994 Asyl. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gab er an, er habe den Lastkraftwagen, der verplombt gewesen sei, während der Fahrt nicht verlassen können. Er sei geflohen, weil er als Sekretär der Demokratischen Partei (DEP) in dem Ort K. bedroht und verfolgt worden sei.

Das Bundesamt lehnte den Asylantrag ab und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AusIG nicht vorliegen. Außerdem enthielt der Bescheid die Aufforderung zur Ausreise in die Türkei und eine Abschiebungsandrohung.

Das VG hob den Bescheid des Bundesamts auf und verpflichtete die Bekl., den Kl. als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, daß in seiner Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG vorliegen. Zur Begründung führte es aus, der Kl. werde nach seinem glaubhaften Vortrag wegen des Verdachts, den kurdischen »Terrorismus« zu unterstützen, politisch verfolgt. Auf die - nur zu Art. 16a GG zugelassene - Berufung des beteiligten Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hat das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil geändert, soweit die Bekl. verpflichtet worden ist, den Kl. als Asylberechtigten anzuerkennen, und die Klage insoweit abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der KI., der Abschiebungsschutz nach § 51 AusIG genieße, könne sich nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG nicht auf das Asylrecht berufen, weil er auf dem Landweg und damit aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei, auch wenn sein Reiseweg nicht im einzelnen bekannt sei. Da die Einreise aus einem sicheren Drittstaat ein objektives Merkmal sei, komme es auf die subjektive Kenntnis oder Unkenntnis des Ausländers vom Reiseweg oder auf seinen Willen nicht an.

II.

Die Revision ist nicht begründet. Gegenstand der Revision ist entsprechend dem Umfang der vom VGH zugelassenen Berufung ausschließlich der Anspruch des Kl. auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG; die vom VG ausgesprochene Verpflichtung der Bekl zur Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AusIG ist hingegen rechtskräftig geworden. Die Verneinung eines Anspruchs des Kl. auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG in Anwendung der sogenannten Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG durch das Berufungsgericht steht mit Bundesrecht in Einklang.

Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft, ob der Kl. im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG politisch verfolgt ist, weil er sich auf das Asylgrundrecht wegen seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht berufen kann. Da diese Begründung zutrifft, bedarf es auch im Revisionsverfahren insoweit keiner Überprüfung (zur fehlenden Bindungswirkung der rechtskräftig bestätigten Verpflichtung zur Feststellung nach § 51 Abs. 1 AusIG vgl. den Beschluß des Senats vom 17.1.1997 - 9 B 640.96 - unter Bezugnahme auf BVerwGE 96, 24 = EZAR 631 Nr. 29).

Zu Recht hat das Berufungsgericht die den Schutzbereich des Art. 16a Abs. 1 GG begrenzende Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG gegen den Kl. angewandt. Nach seinem Vortrag und den Feststellungen des Berufungsgerichts ist er auf dem Landweg in die BR Deutschland eingereist. Da alle Anrainerstaaten der BR Deutschland (entweder aufgrund ihrer Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften oder aufgrund der Bestimmung des Gesetzgebers in Anl. I zu § 26a AsylVfG) sichere Drittstaaten sind, hat grundsätzlich jeder Asylsuchende, der auf dem Landweg in die BR Deutschland gelangt ist, den Ausschlußgrund der Einreise aus einem sicheren Drittstaat verwirklicht (vgl. BVerwGE 100, 23 = EZAR 208 Nr. 5). In der Rechtsprechung des erkennenden Senats und des BVerfG (vgl. BVerfGE 94, 49 = EZAR 208 Nr. 7) ist auch geklärt, daß nach Art. 16a Abs. 2 GG der sichere Drittstaat, aus dem der Ausländer eingereist ist, nicht feststehen muß. Entscheidend für die Asylversagung ist lediglich der Nachweis der Einreise aus (irgend-)einem sicheren Drittstaat (vgl. BVerwG aaO). Die Ansicht der Revision, diese Rechtsprechung könne auf den 1994 eingereisten Kl. nicht »rückwirkend« angewandt werden, verkennt, daß die zitierten Entscheidungen keine Änderung der Rechtslage bewirkt, sondern diese lediglich klargestellt haben. Auch der Einwand der Revision, dem Kl. sei die Anbringung eines Schutzgesuchs in einem durchfahrenden Drittstaat tatsächlich nicht möglich gewesen, weil er sich nach seinem - insoweit vom Berufungsgericht nicht überprüften - Vortrag die gesamte Reisezeit von fünf Tagen auf der Ladefläche eines verplombten Lastkraftwagens aufgehalten und diesen nicht verlassen habe, macht die Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG nicht unanwendbar.

Wie das BVerfG im Urteil vom 14.5.1996 (BVerfGE 94, 49 = EZAR 208 Nr. 7) ausgeführt hat, beschränkt das vom verfassungsändernden Gesetzgeber gewählte Konzept der sicheren Drittstaaten den persönlichen Geltungsbereich des in Art. 16a Abs. 1 GG nach wie vor gewährleisteten Grundrechts auf Asyl. Die Regelung knüpft an den Reiseweg des Ausländers Folgerungen für dessen Schutzbedürftigkeit: Wer aus einem sicheren Drittstaat iSd Art 16a Abs. 2 Satz 1 GG einreist, bedarf des Schutzes der grundrechtlichen Gewährleistung des Art. 16a Abs. 1 GG in der BR Deutschland nicht, weil er in dem Drittstaat Schutz vor politischer Verfolgung hätte finden können. Dabei sieht der Gesetzgeber den Schutz vor politischer Verfolgung dann als gewährleistet an, wenn der Ausländer in einem anderen Staat Aufnahme finden kann, in dem die GK angewendet und insbesondere das Refoulement-Verbot des Art 33 GK beachtet wird. Außerdem muß in dem Drittstaat auch die EMRK, insbesondere ihr Art. 3, Anwendung finden. Liegen diese Voraussetzungen nach der Einschätzung durch den Verfassungsgesetzgeber (für die Mitgliedstaaten der EG nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG) oder nach der Bestimmung durch den einfachen Gesetzgeber durch grundrechtsausfüllendes Gesetz (in § 26a Anl. 1 AsylVfG) vor, so steht damit nicht nur fest, daß dieser Staat »sicher« ist, sondern zugleich, daß ein Ausländer, der aus diesem Staat einreist, dort Schutz auf der Grundlage der GK hätte finden können. Ein solcher Ausländer bedarf nicht mehr des asylrechtlichen Schutzes in der BR Deutschland. Entscheidend für den Ausschluß vom Asylgrundrecht ist danach die objektiv bestehende Möglichkeit für den Ausländer, in einem der von ihm auf seiner Flucht berührten Drittstaaten einen ausreichenden Schutz vor politischer Verfolgung zu erlangen, derentwegen er geflohen ist.

Die Revision meint dagegen, die Anwendung der Drittstaatenregelung setze zusätzlich voraus, daß auch der einzelne Ausländer bei seinem Aufenthalt in dem Drittstaat individuell die Möglichkeit gehabt haben müsse, ein Schutzgesuch anzubringen. Das ist nicht richtig. Nach der Entscheidung des BVerfG bleiben vom Ausländer selbst zu verantwortende Hindernisse, ein Schutzgesuch anzubringen, außer Betracht. Allerdings hat das BVerfG auch ausgeführt, für die Beurteilung der Frage, ob der Ausländer »aus« einem (sicheren) Drittstaat eingereist ist, sei von dem tatsächlichen Verlauf seiner Reise auszugehen und es genüge für die Anwendung von Art. 16a Abs. 2 GG nicht, »wenn der Ausländer den Drittstaat mit öffentlichen Verkehrsmitteln durchfuhr, ohne daß es einen Zwischenhalt gegeben hat.« Art. 16a Abs. 2 GG greife nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck jedoch nicht erst dann ein, »wenn sich der Ausländer im Drittstaat eine bestimmte Zeit aufgehalten hat. Vielmehr geht die Drittstaatenregelung davon aus, daß der Ausländer den im Drittstaat für ihn möglichen Schutz in Anspruch nehmen muß und dafür gegebenenfalls auch die von ihm geplante Reise zu unterbrechen hat.« Auch müsse der sichere Drittstaat nicht die letzte Station vor der Einreise in die Bundesrepublik gewesen sein; vielmehr reiche es aus, daß der Ausländer »sich während seiner Reise irgendwann in einem sicheren Drittstaat befunden hat und dort Schutz nach den Bestimmungen der GK hätte finden können.« Er bedarf dann des Schutzes gerade in der BR Deutschland nicht mehr, auch wenn er von dort seine Reise nach Deutschland über Staaten, für die Art. 16a Abs. 2 GG nicht gelte, fortgesetzt habe. Art. 16a Abs. 2 GG nehme dem Ausländer »die Möglichkeit, das Land, in dem er um Schutz nachsuchen will, frei zu wählen.«

Hieraus ergibt sich, daß es für die Anwendung der Drittstaatenregelung zunächst und in erster Linie darauf ankommt, ob der Ausländer - entsprechend dem Verlauf seiner Reise - tatsächlich Gebietskontakt zu dem sicheren Drittstaat gehabt hat, ohne daß es weiter darauf ankäme, ob er etwa im Rechtssinne in den Drittstaat »eingereist« und von dort in die Bundesrepublik »ausgereist« ist. Anknüpfungspunkt für eine gesamteuropäische Lastenverteilung, die mit der Drittstaatenregelung bezweckt ist, soll mit anderen Worten das Betreten des Staatsgebiets durch den Ausländer sein; bereits dieses begründet nicht nur die Sicherheit des Ausländers, sondern - in einer anzustrebenden europäischen Gesamtregelung - zugleich die Verantwortlichkeit des Drittstaats für die Behandlung eines etwaigen Schutzersuchens. Insoweit kommt es auf die tatsächliche Möglichkeit des Anbringens eines Schutzgesuchs durch den einzelnen Ausländer nicht an. Ein Gebietskontakt, der die Zuständigkeit des Drittstaats für ein Asylgesuch des Ausländers zu begründen vermag, kommt jedoch nicht zustande, wenn dessen Territorium lediglich etwa in einem öffentlichen Verkehrsmittel ohne Zwischenhalt durchfahren worden ist. Unter solchen Umständen - wie beispielsweise seinerzeit auch bei der Vereinbarung von Transitzügen zur Aufnahme der sogenannten albanischen Botschaftsflüchtlinge in Deutschland - besteht unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Lastenverteilung kein Grund, diesen lediglich durchquerten Drittstaat im Hinblick auf den Gebietskontakt verantwortlich heranzuziehen. Hierauf - und nicht auf die ganz andere Frage nach der Anbringung eines individuellen Schutzgesuchs - beziehen sich die Ausführungen des BVerfG einschließlich des Beispiels des Transits, wie sich im übrigen auch aus der Stellung in dem gegliederten Entscheidungstext erschließt.

Ob der Gebietskontakt mit einem sicheren Drittstaat ausnahmsweise - bei Anlegen eines strengen, die Effektivität der Drittstaatenregelung zur Geltung bringenden und Mißbrauch möglichst ausschließenden Maßstabs - in Fällen objektiver, von dem schutzbedürftigen Ausländer nicht zu vertretender Unmöglichkeit, im sicheren Drittstaat einen Schutzantrag zu stellen, unberücksichtigt bleiben kann, bedarf keiner weiteren Erörterung und Entscheidung (vgl. bejahend GK-AsylVfG, § 32 Rn. 22). Einen Sachverhalt, der zu solchen. Überlegungen Anlaß bieten würde, hat der Kl. nicht vorgetragen (vgl. hierzu BVerfGE 94, 49 = EZAR 208 Nr. 7) und hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Zu den Hindernissen, die der Ausländer ohne Rücksicht auf die mehr oder weniger beschränkten Einflußmöglichkeiten im Einzelfall selbst zu verantworten hat, weil sie in seine Handlungs- und Verantwortungssphäre fallen, gehören jedenfalls solche, die sich aus der Wahl des Verkehrsmittels (einschließlich der Benutzung eines verplombten LKW), des Reisewegs oder der Beauftragung eines Schleppers mit der Organisation und Durchführung der Reise ergeben können.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Drittstaatenregelung in einem Fall wie dem vorliegenden uneingeschränkt anwendbar. Der Kl. hat nach seinen eigenen Angaben mit der Wahl einer von Schleusern gegen Zahlung von 3 000 DM bereitgestellten Reisemöglichkeit in einem verschlossenen Lastkraftwagen einen Fluchtweg über zumindest einen sicheren Drittstaat gewählt und dabei in Kauf genommen, dort ein Schutzgesuch tatsächlich nicht anbringen zu können. Die von der Revision herausgestellte subjektive Schutzlosigkeit im Drittstaat fiele demnach, ohne daß insoweit weiterer Aufklärungsbedarf besteht, eindeutig in den Verantwortungsbereich des Kl. mit der Folge, daß er sich gemäß Art. 16a Abs. 2 GG nicht auf das Asylgrundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG berufen kann.

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