Bundesverfassungsgericht, 3 July 1996

Leitsätze (nicht amtlich):

1.         Es ist mit Art. 16a Abs. 1 GG unvereinbar, wenn das Gericht bei der Feststellung des politischen Charakters einer Verfolgung allein auf den Inhalt der Verurteilung abstellt, 17 Tage dauernde Folterungen durch die Polizei mit schweren körperlichen Folgeschäden aber nicht beachtet.

2.         Es verstößt gegen Art. 16a Abs. 1 GG, wenn das Gericht ein nicht von vornherein asylirrelevantes Vorbringen mit der Begründung, dem Ausländer sei deshalb bereits Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 1 AusIG gewährt, unberücksichtigt läßt.

Aus den Gründen:

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aus Art. 16a Abs. 1 GG folgenden verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung des politische Charakters einer Verfolgungsmaßnahme (hier: Folter) und an die gerichtliche Pflicht zur Verarbeitung von zulässigem und erheblichem Vorbringen.

I.

1.

a)         Der Bf., ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, stellte im Januar 1992 einen Asylantrag und gab zur Begründung an, er habe die illegale Organisation TKP/ML-Tikko unterstützt, sei deswegen im September 1991 verhaftet, 17 Tage lang auf einer Wache festgehalten und schwer gefoltert worden. Danach sei er dem Staatssicherheitsgericht E. überstellt worden, wo er weitere 41 Tage in Haft gehalten worden sei. Am 19.11.1991 habe man ihm unter Auflagen Haftverschonung gewährt und ihn auf freien Fuß gesetzt. Am 17.12.1991 habe ihn das Staatssicherheitsgericht E. zu drei Jahren und neun Monaten schwerer Zuchthaushaft verurteilt. Er habe dagegen Berufung eingelegt und deshalb die Strafe nicht sofort antreten müssen. Wegen der Aussichtslosigkeit dieser Berufung sei er aus der Türkei geflohen, ohne die Berufungsverhandlung abzuwarten. Im Falle seiner Rückkehr in die Türkei befürchte er, wieder gefoltert zu werden, und habe Angst um sein Leben.

b)         Mit Bescheid vom 26.11.1993 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG nicht vorliegen, da der politische Charakter der gegen den Bf. ergriffenen Verfolgungsmaßnahmen zu verneinen sei. Hingegen bejahte das Bundesamt eine Foltergefahr und stellte fest, daß Abschiebungshindemisse nach § 53 Abs. 1 AusIG einer Abschiebung des Bf. in die Türkei entgegenstünden. Es nahm die Türkei als Abschiebezielstaat ausdrücklich von der Abschiebungsandrohung aus.

c)         Mit der daraufhin zum VG Hamburg erhobenen Klage machte der Bf. geltend, der Bescheid würdige mit keinem Wort die von ihm bereits in der Türkei erlittene Folter und die Zielgerichtetheit dieser Maßnahme gegen seine linksrevolutionäre Auffassung. Angesichts der neueren Erkenntnisse zur inländischen Fluchtalternative für Kurden in der Türkei sei im übringen davon auszugehen, daß eine systematische flächendeckende Verfolgung von Kurden vor ihm nicht deshalb Halt machen werde, weil er nicht nationalistisch-separatistisch, sondern linksrevolutionär eingestellt sei. Die Mitglieder der TKP/ML seien seit April 1990 Hauptzielscheiben für extralegale Hinrichtungen. Vermutete Mitglieder und Sympathisanten dieser Gruppe würden zudem mit einer Flut von Strafverfahren überzogen.

2.         Mit dem angegriffenen Urteil vom 22.2.1994 wies das VG Hamburg die Klage ab:

Die Darlegungen des Bf., der Kreisdelegierter und Mitglied der SHP sowie außerdem Sympathisant der TKP/ML gewesen sei, seien zwar durchaus glaubhaft. Insoweit hat das Gericht ua im Urteil festgestellt, der Bf. sei in der Folterzentrale der Polizei derart schwer gefoltert worden, daß er trotz medizinischer Behandlung an der rechten Seite fast gelähmt sei und seinen rechten Arm und sein rechtes Bein nur eingeschränkt bewegen könne, daß er hingegen im Gerichtsgefängnis von E. zwar schikaniert und schlecht behandelt, aber nicht gefoltert worden sei.

Die Verurteilung des Bf. - so führt das VG weiter aus - stelle jedoch eine Sanktion kriminellen Unrechts und nicht einen Akt politischer Verfolgung dar. Aus dem vom Bf. vorgelegte Urteil des Staatssicherheitsgerichts sowie aus dem vorangegangenen gerichtlichen Verfahren in der Türkei ergebe sich, daß das Staatssicherheitsgericht mit der Verurteilung an den objektiven, vom Bf. nicht bestrittenen Umstand angeknüpft habe, daß er der TKP/ML-Tikko eine Tonne Lebensmittel geliefert und damit eine gewalttätige Untergruppe der TKP/ML unterstützt habe. Aus der staatlichen Friedensordnung sei er demnach nicht ausgegrenzt worden. Dem vorliegenden Urteil des Staatssicherheitsgerichts sei nicht zu entnehmen, daß er wegen seiner politischen Überzeugung gezielter staatlicher Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Das VG berief sich insoweit auf ein Gutachten von Rumpf an das VG Bremen vom 20.11.1992, in dem Rumpf ausführt, die TKP/ML habe einen Flügel namens Tikko-Partizan. Dem türkischen Kassationshof zufolge handele es sich bei der TKP/ML um eine in zwei Teilen agierende marxistisch-leninistische Partei. Der politische Flügel sei die TKP/ML, ihr militärischer Flügel die Tikko-Partizan. Diese Teile seien wiederum in verschiedene Gruppierungen zu unterteilen, deren Kampfmittel in ländlichen Gebieten die Propaganda in Bildungseinrichtungen und Arbeitnehmerorganisationen sowie der Einsatz einer bewaffneten Guerilla und der Volkskrieg gegen den Großgrundbesitzerstaat sei. Eine Gruppe »TKP/ML-Tikko TMLGB« habe sich zu mehreren Molotowcocktail-Anschlägen auf Banken in Istanbul bekannt. Die türkischen Sicherheitskräfte gingen offenbar unterschiedslos davon aus, daß es sich bei der TKP/ML um eine terroristische Organisation handele. Mitglieder der Organisation würden auch als Guerilla bezeichnet.

Das VG führt ferner aus, da das Bundesamt festgestellt habe, daß der Bf. nicht in die Türkei abgeschoben werden dürfe, komme es nicht mehr darauf an, ob er in der Westtürkei allein aufgrund der Tatsache, daß er Kurde sei, von Verfolgung bedroht werde, oder ob er mit einer Vollstreckung des Urteils unter erschwerten Umständen wegen der illegalen Ausreise und Stellung eines Asylantrags zu rechnen habe oder ob es von besonderem Interesse für die staatlichen Verfolgungsbehörden sei, daß zwei weitere Familienmitglieder im Verdacht stünden, für die TKP/ML-Tikko gearbeitet zu haben. Einen diesbezüglichen hilfsweise gestellten Beweisantrag lehnte es deshalb ab. Schließlich führte es aus, es sei auch nichts dafür dargetan, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG vorlägen.

3.         Den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil lehnte das Hamburgische OVG mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluß vom 15.8.1994 ab.

II.

1.         Mit einer rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Bf., die beiden Gerichtsentscheidungen verletzten ihn in seinem Grundrecht auf politisches Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG. In Verkennung dieses Grundrechts gingen sie davon aus, die Verfolgung wegen der Unterstützung der TKP/ML-Tikko diene allein der Ahndung einer Straftat, die sich gegen die Rechtsgüter anderer Bürger gerichtet habe. Es handele sich in seinem Fall lediglich um eine allgemeine, auf der untersten Stufe angesiedelte Hilfstätigkeit, die sich weder unmittelbar noch mittelbar mit den von den türkischen Sicherheitskräften als terroristisch eingestuften Taten der TKP/ML-Tikko verbinden lasse und nicht einmal die Qualität einer Vorfeldaktivität erreicht habe. Selbstverständlich sei eine Lieferung von Lebensmitteln auch in der Türkei nicht strafbar. Soweit das Staatssicherheitsgericht die Lebensmittellieferung als terroristische Straftat werte, erfasse es damit im Fall des Bf. nicht den Angriff auf ein Rechtsgut anderer, sondern den in dieser Handlung liegenden Angriff auf ein politisches Rechtsgut. Er sei in asylrelevanter Weise politisch verfolgt worden, weil seine politische Haltung mit schwerer Folter und drakonischer Verurteilung habe getroffen werden sollen und eine solche Verfolgung in der Türkei so nur gegenüber dem politischen Gegner stattfinde.

Im übrigen habe das VG dem Urteil keine Erkenntnisse über seine Haltung zu den Terroraktivitäten der TKP/ML-Tikko zugrunde gelegt, sondern vielmehr festgestellt, er sei Mitglied der SHP. Zwar zitiere es ein Gutachten von Rumpf, dem sich aber nur entnehmen lasse, daß es die verschiedensten Abspaltungen der TKP/ML gebe und sich eine »TKP/ML-Tikko TMLGB« nennende Organisation zu mehreren MolotowcocktailAnschlägen auf Istanbuler Banken bekannt habe. Weder dem Urteil des Staatssicherheitsgerichts in E. noch dem Urteil des VG Hamburg lasse sich indessen entnehmen, ob er mit der Lebensmittellieferung einen terroristisch aktiven Teil der TKP/ML-Tikko unterstützt habe oder ob diese Guerilla in den ländlichen Gebieten mit Propaganda beschäftigt gewesen sei. Statt dessen habe sich das VG einfach die Einschätzung der türkischen Sicherheitskräfte zu eigen gemacht, ohne daß sich die Entscheidungsfindung in diesem Punkt überprüfen lasse.

Ferner habe das VG nicht geprüft, ob er nicht schon als kurdischer Volkszugehöriger aufgrund einer Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei als Asylberechtigter hätte anerkannt werden müssen. Als asylerheblicher objektiver Nachfluchtgrund sei es anzusehen, daß er als nichtassimilierter Kurde mit Herkunft aus den Aufstandsgebieten im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit einer Gruppenverfolgung zu rechnen habe, ohne daß für ihn die Möglichkeit einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative bestehe.

Der Umstand, daß ihm bereits Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 1 AusIG vom Bundesamt gewährt worden sei, beseitige nicht das Rechtsschutzinteresse für die Asylklage und die Verfassungsbeschwerde. Denn der Rechtsstatus eines lediglich geduldeten Ausländers unterscheide sich erheblich von dem eines Asylberechtigten.

2.         Das BVerfG hat der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg sowie den Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

B

I.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchführung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Bf. angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Bst. b, § 93b Satz 1 BVerfGG). Obwohl dem Bf. bereits nach dem Bescheid des Bundesamts gegenüber einer Abschiebung in die Türkei der dem Kerngehalt des Art. 16a Abs. 1 GG gleichkommende Abschiebungsschutz aus § 53 Abs. 1 AusIG zusteht, würde ihm durch die Nichtannahme ein besonders schwerer Nachteil entstehen. Denn ihm wird mit der Verneinung seines Anspruchs auf Anerkennung als Asylberechtigter ein Status verweigert, der über den bloßen Abschiebungsschutz hinaus hinsichtlich der Dauer des Aufenthalts, des Ausweisungsschutzes, der Reisefreiheit, der Einbürgerungsmöglichkeit, des Nachzugsrechts für Familienangehörige, des Arbeitserlaubnisrechts, des Anspruchs auf soziale Hilfe und Kindergeld, der Arbeitserlaubnis sowie der Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz unmittelbar ab Anerkennung zahlreiche Rechtsansprüche auf privilegierte Rechtspositionen vermittelt. Dem allein nach § 53 Abs. 1 AusIG geschützten Ausländer hingegen steht allenfalls ein Anspruch auf Duldung und gegebenenfalls auf ermessensfehlerfreie Prüfung der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis zu, woran anknüpfend gleichartige Positionen jedoch entweder nur aufgrund einer Ermessensen tscheidung oder erst nach längeren Wartezeiten oder gar nicht entstehen können (vgl. dazu Kanein/Renner, AusIR, 6. Aufl., 1993, Rn. 114 bis 157 zu § 10 AusIG und Rn. 22 bis 29 zu § 2 AsylVfG; vgl. insoweit auch Beschluß der erkennenden Kammer, NVwZ-Beil. 1995, 52).

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BverfGG auch offensichtlich begründet. Die Würdigung der Frage des politischen Charakters der vom Bf. in der Türkei erlittenen Verfolgung im Urteil des VG verletzt Art. 16a Abs. 1 GG. Mit Art. 16a Abs. 1 GG unvereinbar ist auch, daß das VG mit dem Hinweis auf den bereits gewährten Abschiebungssehutz gemäß § 53 Abs. 1 AusIG das Vorbringen des Bf. zu den ihm im Falle seiner Rückkehr in die Türkei dort drohenden Gefahren nicht verarbeitet hat.

1.

a)         Das BVerfG hat in bezug auf den Tatbestand »politisch Verfolgter« sowohl hinsichtlich der Ermittlung des Sachverhalts selbst als auch seiner rechtlichen Bewertung zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und Umfang ihrer Ermittlungen der Asylgewährleistung gerecht werden (BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20). Den Fachgerichten ist dabei jedoch ein gewisser Wertungsrahmen zu belassen. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist eine fachgerichtliche Bewertung dann, wenn sie anhand der gegebenen Begründung nicht mehr nachvollziehbar ist oder nicht auf einer verläßlichen Grundlage beruht (vgl. BVerfG-Kammer, InfAusIR 1991, 85 u. 1992, 231).

aa)        Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin »wegen« eines asylerheblichen persönlichen Merkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht aber nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (vgl. BVerfGE 76, 143 = EZAR 200 Nr. 20; BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr. 20; BVerfGE 81, 142 = EZAR 200 Nr. 26).

bb)        Auch Folter kann dann asylrelevante Verfolgung darstellen, wenn sie wegen asylretevanter Merkmale eingesetzt oder im Blick auf diese in verschärfter Form angewendet wird (BVerfGE 81, 142 = EZAR 200 Nr. 26). Die Ahndung terroristischer Aktivitäten ist zwar in aller Regel als Rechtsgüterschutz einzustufen, der grundsätzlich nur der Ahndung eines nach der internationalen Staatenpraxis strafwürdigen kriminellen Verhaltens gilt. Wenn jedoch objektive Umstände - wie etwa die besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahme - darauf schließen lassen, daß der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird, ist die Annahme einer politischen Verfolgung nicht ausgeschlossen (BVerfGE 80, 315 = EZAR 201 Nr. 20). Das kann namentlich dann anzunehmen sein, wenn der Verfolgte in der Polizeihaft mit der Anwendung von Folter rechnen müßte oder solche sogar erlitten hat, die über das Maß dessen hinausgeht, was Personen zu erwarten haben, die dort wegen krimineller Delikte inhaftiert sind (vgl. BVerfGE 81, 142 = EZAR 200 Nr. 26). Die überschießende Intensität kann dann darauf hindeuten, daß über die bloße Bekämpfung der Rechtsgutsverletzung hinaus auf die Person des Rechtsgutsverletzers selbst und seine abweichende politische Überzeugung zugegriffen werden soll (vgl. B.VerfGE 81, 142 = EZAR 200 Nr. 26).

b)         Mit Blick hierauf halten die maßgeblichen Erwägungen des VG zum fehlenden politischen Charakter der vom Bf. bereits in der Türkei erlittenen Verfolgungsmaßnahmen der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Das VG hat mit ihnen den ihm eröffneten fachgerichtlichen Wertungsrahmen überschritten.

aa)        Das VG hat seine rechtliche Würdigung, es fehle am politischen Charakter der vom Bf. in der Türkei erlittenen Verfolgung, allein auf die Umstände der gerichtlichen Verfolgung sowie den Inhalt des Urteils des Staatssicherheitsgerichts gestützt. Es hat insoweit ausgeführt, der Verlauf des gerichtlichen Verfahrens und die Verurteilung des Bf. zeigten, daß die Verfolgung lediglich auf die Unterstützung einer Terrorgruppe, nicht jedoch auf die politische Gesinnung des Bf. abziele. Hingegen läßt das VG im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung völlig außer acht, daß der Bf. seinen - als glaubhaft angesehenen - Angaben zufolge schon vor der gerichtlichen Ahndung seines Handelns Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staats in Form von 17 Tage lang dauernden Folterungen in der Folterzentrale der Polizei ausgesetzt war, die zur Folge hatten, daß er trotz medizinischer Behandlung an der rechten Körperhälfte fast gelähmt ist und seinen rechten Arm und sein rechtes Bein nur noch eingeschränkt bewegen kann. Eine Berücksichtigung dieses Umstands war indes nach den dargelegten Grundsätzen unerläßlich: Zum einen deshalb, weil alle objektiven Umstände zu berücksichtigen sind, aus denen sich schließen läßt, daß der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals und damit politisch verfolgt wird; zum anderen auch, weil die besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahnie und insbesondere die Anwendung der Folter als schärfste Form der Ausgrenzung eines Menschen aus der staatlichen Friedensordnung regelmäßig ein Indiz für die asylerhebliche Zielrichtung der staatlichen Maßnahmen darstellt.

bb)        Offen bleiben kann dabei, ob der Bf. tatsächlich - wie von dem türkischen Staatssicherheitsgericht in dem vorliegenden Urteil festgestellt - einen »als militant bekannten Anhänger der bewaffneten TKP/ML-Tikko-Gruppe« mit seiner Lebensmittellieferung unterstützt hat und ob die ua daran sowie an das Gutachten von Rumpf anknüpfende rechtliche Würdigung des VG auf ausreichenden Feststellungen beruht, der Bf. habe damit gewalttätige terroristische Aktivitäten unterstützt, so daß die daran anknüpfende Verfolgung lediglich auf den legitimen Rechtsgüterschutz abziele und damit objektiv keinen politischen Charakter aufweise (vgl. dazu BVerfG-Kammer, EZAR 201 Nr.23 = InfAusIR 1991, 257; BVerfG-Kammer, InfAusIR 1992, 283). Denn auch in einem solchen Fall wäre die dem Bf. zugefügte massive Folter ein gewichtiger Umstand, der eine solche staatliche Reaktion auf sein Verhalten aus dem asylunerheblichen Bereich herausfallen lassen kann. Die Asylerheblichkeit der Folter in solchen Fällen zu verneinen, würde die Feststellung voraussetzen, daß selbst solch massive Folterungen in der Türkei auch bei der Ahndung anderer »normaler« krimineller Taten angewendet werden (vgl. BVerfG-Kammer, InfAusIR 1992, 59). Dafür aber ist in dem Urteil des VG nichts dargetan.

cc)        Unerheblich ist auch, daß dem Bf. in der Untersuchungshaft im Gerichtsgefängnis keine weiteren Folterungen mehr zugefügt wurden und daß ihm noch vor dem Ergehen des Urteils sogar Haftverschonung gewährt wurde. Nur wenn durch diese Behandlung im gerichtlichen Verfahren eine nunmehr gegebene hinreichende Sicherheit vor Wiederholung der in Form der Folter erlittenen Vorverfolgung des Bf. zum Ausdruck gekommen wäre, könnte dies erheblich sein. Dafür ist jedoch nichts ersichtlich und vom VG auch nichts dargetan.

2.         Das Urteil des VG verletzt den Bf. auch insoweit in seinem Grundrecht auf Asyl aus Art. 16a Abs. 1 GG, als es sein übriges Vorbringen unberücksichtigt gelassen hat.

a)         Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gilt auch bei der asylrechtlichen Prüfung die - im übrigen schon aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende - Pflicht (vgl. BVerfGE 47, 182; BVerfGE 86, 113), die wesentlichen der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen zur Kenntnis zu nehmen und in den Entscheidungsgründen zu verarbeiten (vgl. BVerfG-Kammer, InfAusIR 1991, 179). Diese Kenntnisnahme- und Verarbeitungspflicht findet ihre Grenze in den Fällen, in denen das Vorbringen nach den Prozeßvorschriften ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muß bzw. unberücksichtigt bleiben kann (vgl. BVerfGE 22, 267; st. Rspr.).

b)         Hiernach durfte das VG das Vorbringen des Bf. zu den ihm bei Rückkehr in die Türkei drohenden Gefahren nicht unter Verweis darauf unberücksichtigt lassen, daß diesem bereits durch den Bescheid des Bundesamts Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 1 AusIG gewährt worden ist. Denn die auf die Anerkennung als Asylberechtigter iSd Art. 16a Abs. 1 GG gerichtete Klage war deshalb nicht etwa mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig; mit dem Status eines anerkannten Asylberechtigten sind - wie bereits dargelegt - weitergehende Rechte verbunden als mit dem Status eines lediglich nach § 53 Abs. 1 iVm § 55 Abs. 2 AusIG geduldeten Ausländers (vgl. BVerwGE 75, 304). Die zur Begründung der somit zulässigen, auf Asylanerkennung gerichteten Klage vom Bf. weiter vorgetragenen, asylrechtlich nicht von vornherein unerheblichen Umstände durfte das VG deshalb nicht unberücksichtigt lassen.

Das angegriffene Urteil ist in vollem Umfang - dh wegen des durch den Begriff des Asylantrags hergestellten Zusammenhangs zwischen Art. 16a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AusIG (vgl. dazu § 51 Abs. 2 Nr. 1 AuslG; §§ 13 Abs. 2, 31 Abs. 2 Satz 1 AsylWG) auch hinsichtlich der Feststellung des VG zu den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG - aufzuheben. Die Sache ist an das YG zurückzuverweisen (§§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG), damit über den vom Bf. geltend gemachten Asylantrag neu entschieden werden kann.

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