Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 16. October 1998-2 BvR 1328/96

Bundesverfassungsgericht, 16 Oct. 1998

Leitsatz (nicht amtlich):

Es bedarf der Begründung im Einzelfall, daß ein Auftritt im Fernsehen als exilpolitische Betätigung für die Anerkennung des Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 1 AusIG unerheblich ist.

Aus den Gründen:

I.

Der im September 1993 in die BR Deutschland eingereiste Bf. ist iranischer Staatsangehöriger. Den Antrag des Bf. auf Anerkennung als Asylberechtigter lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 10.3.1994 ab. Hiergegen erhob der Bf. Klage und machte insbesondere exilpolitische Aktivitäten geltend. Unter anderem habe er sich im Rahmen eines ausführlichen Interviews, das für einen im Exil tätigen iranischen Fernsehsender aufgenommen und im Juli 1995 über den sogenannten »Offenen Kanal« in D. zweimal ausgestrahlt worden sei, kritisch zum Regime im Iran und insbesondere zur Praxis der Indexierung von kritischen Büchern sowie zum islamischen Religionsveiständnis geäußert. Sein Antrag, die dem Gericht vorgelegte Videocassette mit einem Mitschnitt des Interviews in Augenschein zu nehmen, wurde abgelehnt.

Mit Urteil vom 29.8.1995 wies das VG A. die Klage als unbegründet ab und führte zur Begründung unter anderem aus: Ein zur Asylanerkennung führender subjektiver Nachfluchtgrund mit Blick auf die exilpolitische Tätigkeit des Bf. sei zu verneinen, weil diese sich nicht als Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat nach außen kundgetanen politischen Überzeugung darstelle. Auffallend sei im übrigen der zeitliche Kontext der exilpolitischen Aktivitäten zum verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Das Femsehinterview sei erst zu einem Zeitpunkt ausgestrahlt worden, nachdem die Ladungen zur mündlichen Verhandlung ergangen seien. Allein das »Dabeisein« des Bf. bei politischen Veranstaltungen stelle keinen asylerheblichen Nachfluchtgrund dar. Das gelte gleichermaßen für die Aktivitäten des Bf. im Fernsehsender »Offener Kanal D.«. Auch insoweit hebe sich der Bf. »nämlich nicht aus der großen Masse der iranischen Asylbewerber heraus, die allgemein mit den politischen Verhältnissen im Iran unzufrieden« seien. Auch das Begehren auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG habe keinen Erfolg. Eine Gefahr für Leben oder persönliche Freiheit drohe dem Bf. weder wegen seiner Asylantragstellung noch wegen seiner Aktivitäten in einem privaten Fernsehprogramm. Mit Beschluß vom 29.5.1996 lehnte das OVG NRW den Antrag des Bf. auf Zulassung der Berufung ab. Es sei eine grundsätzlicher Klärung nicht zugängliche Frage des Einzelfalls, ob die Schlußfolgerung des VG zur exilpolitischen Betätigung zutreffe.

II.

Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Bf. eine Verletzung der Art. 16a Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 sowie der Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Er sei insbesondere durch seinen öffentlichen Auftritt im Fernsehen dem iranischen Sicherheitsdienst erkennbar im Rahmen der systematischen Überwachung als Oppositioneller aufgefallen und daher bei seiner Rückkehr der Gefahr politischer Verfolgung iSd § 51 Abs. 1 AusIG ausgesetzt. Die Feststellung des VG, daß er sich aufgrund des Interviews nicht aus der großen Masse der iranischen Asylbewerber heraushebe, sei ohne Begründung nicht nachvollziehbar, da die große Masse der Exiliraner »kaum Fernsehinterviews in der BR Deutschland gebe«. Der Beweisantrag hätte nicht abgelehnt werden dürfen, da es insoweit nicht lediglich auf den Wortlaut des Interviews ankomme, sondern es einer Gesamtwürdigung des öffentlichen Auftretens des Bf. im Fernsehen bedurft hätte.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 ABs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Bst. b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet im Sinne von § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das BVerfG bereits entschieden.

Das angegriffene Urteil verstößt aufgrund der hier gegebenen Besonderheiten gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit es die Klage des Bf. auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusIG abgewiesen hat.

1.         Gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG wird unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots nicht bereits dann verstoßen, wenn die angegriffene Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren fehlerhaft sind. Von willkürlicher Mißdeutung kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (BVerfGE 87, 273). Selbst eine zweifelsfreie fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts begründet für sich allein noch nicht den Vorwurf der Willkür. Hinzukommen muß vielmehr, daß die Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar und verständlich sind und sich daher der Schluß aufdrängt, daß die Entscheidung auf sachfrernden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 4, 1; BVerfGE 62, 189; BVerfGE 80, 48). Die Feststellung von Willkür enthält keinen subjektiven Schuldvorwurf. Willkür ist im objektiven Sinn zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl. BVerfGE 80, 48; BVerfG, NVwZ-Beil. 1997, 10). Aus dem Willkürverbot ergibt sich zwar kein allgemeiner verfassungsrechtlicher Begründungszwang. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Gesetz und Recht - je nach Besonderheit des Einzelfalls - von Verfassungs wegen eine Begründungspflicht zur Folge haben kann (vgl. BVerfGE 71, 122 = EZAR 613 Nr. 16).

2.         Diesem verfassungsrechtlichen Maßstab werden die Erwägungen, mit denen das VG das Vorliegen einer Rückkehrgefährdung wegen exilpolitischer Betätigung und ein sich hieraus ergehendes Abschiebungsverbot iSd § 51 Abs. 1 AusIG verneint hat, nicht gerecht.

a)         Wird ein Tatsachenvortrag, der einen wesentlichen Kern des Vorbringens darstellt, der Entscheidung zugrunde gelegt, so muß nicht nur das Ergebnis in sich verständlich und nachvollziehbar sein. Vielmehr muß die Entscheidung auch eine Darlegung des rechtlichen Maßstabs enthalten, an der sich die konkrete Begründung messen läßt.

b)         Daran fehlt es hier.

Es versteht sich keinesfalls von selbst, daß ein Auftritt im Fernsehen für die Anwendung des § 51 Abs. 1 AusIG unerheblich ist. Tritt jemand im Fernsehen auf und gibt in der besonderen Gesprächssituation eines Interviews öffentlich Erklärungen ab, dann tritt diese Person gleichsam aus der Anonymität einer Masse heraus und ist als Einzelner individualisierbar und damit im Sinne einer Observation auch leichter greifbar (vgl. auch BVerfG-Kammer, B.v. 9.8.1994-2 BvR 2576/93 -). Ohne Darlegung, anhand welchen rechtlichen Maßstabs und welcher abstrakten Abgrenzungskriterien das Gericht zu seiner Beurteilung gelangt, bleibt das Ergebnis, es drohe deshalb keine Gefahr für Leben oder persönliche Freiheit, beliebig.

Mangels nachvollziehbarer, widerspruchsfreier Begründung erscheint vor allem auch nicht ausgeschlossen, daß das Gericht den Fernsehauftritt von vornherein als unerheblich für § 51 Abs. 1 AusIG angesehen hat. Eine einschränkende Interpretation des Abschiebungsschutz es bei der Fallgruppe der subjektiven Nachfluchtgründe, die auf einen völligen Gleichlauf von asylrechtlicher und ausländerrechtlicher Bewertung zielte, wäre aber verfassungsrechtlich nicht tragfähig (vgl. BVerfGE 74, 51 = EZAR 200 Nr. 18; BVerfG-K, InfAusIR 1993, 179 u. 1994, 114).

Die Begründung des VG läßt nicht erkennen auf welcher Grundlage es zu seiner Beurteilung kommt. Es fehlt jegliche Darlegung, welche Kriterien das Gericht im Rahmen der Prüfung des § 51 Abs. 1 AusIG zur Abgrenzung zwischen unbedeutenden und bedeutenden exilpolitischen Aktivitäten herangezogen hat. Die Ausführungen des Gerichts zu Art. 16 a Abs. 1 GG legen die Annahme nahe, daß das Gericht auch seiner Beurteilung zu § 51 Abs. 1 AusIG die Prämisse zugrunde legt, öffentlichkeitswirksame exilpolitische Aktivitäten begründeten eine beachtliche Verfolgungsgefahr. Dann bleibt jedoch ohne Angabe von Abgrenzungskriterien die apodiktische Behauptung, der Bf. hebe sich »nicht aus der großen Masse der iranischen Asylbewerber heraus«, unverständlich und ist nicht nachvollziehbar. Dazu, daß öffentliche Auftritte in einem Fernsehsender etwa zur gängigen Form der politischen Selbstdarstellung von iranischen Asylbewerbern gehören und als typische Plattform für Kritik an ihrem Heimatstaat genutzt werden, finden sich in der angegriffenen Entscheidung keinerlei Feststellungen noch gibt es dafür irgendwelche Anhaltspunkte.

Der Begründungsausfall wiegt um so schwerer, als das Gericht, das den Vortrag zum Fernsehinterview ausdrücklich als wahr unterstellt, zugleich im unklaren läßt, auf welche genaue Tatsachengrundlage es seine Beurteilung stützt. Das ist bedeutsam, weil der Umstand, daß das Gericht den Beweisantrag des Bf. mit einer völlig unverständlichen Begründung abgelehnt hat, sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 1 GG nur dann als verfassungsrechtlich unbedenklich erweist, wenn sich der als wahr unterstellte Sachverhalt mit der Einlassung des Bf. deckt. Das Gericht erwähnt insoweit zwar ganz allgemein die Tatsache des Interviews. Im weiteren wird jedoch lediglich darauf abgestellt, daß der Bf. zu seinen Aktivitäten beim Fernsehsender »Offener Kanal« geschildert habe, er helfe mit, bediene auch eine Kamera, beteilige sich an Sitzungen. Die einzige Umschreibung des Gerichts, mit der es auf den Umstand des Fernsehauftritts Bezug nimmt, findet sich in der Feststellung, daß der Bf. erst »auf Nachfrage« angegeben habe, »daß in dem fraglichen Fernsehkanal auch >sein Fall geschildert worden sei«. Das geht ersichtlich am Kern des Tatsachenvortrags vorbei und läßt auch den Beweisantrag außer acht. Die Feststellung des Gerichts steht in offenem Widerspruch zur Einlassung des Bf., er selbst sei in der Sendung aufgetreten und habe ein ausführliches Interview gegeben, in welchem er dezidiert regime- und religionskritische Positionen vertreten habe. Fehlt es an jeglicher Darlegung und Präzisierung des anzuwendenden rechtlichen Maßstabs, bleibt die Beurteilung des Fernsehinterviews als unbedeutende Aktivität willkürlich. Insbesondere erscheint nicht ausgeschlossen, daß die Einschätzung des Gerichts auf sachfremden Erwägungen beruht: Das Gericht weist - wenn auch an anderer Stelle - ausdrücklich darauf hin, daß der Eindruck bestehe, der Bf. sei gezielt »im zeitlichen Kontext zur mündlichen Verhandlung« aktiv geworden. Unmut darüber, daß erfolglose Asylbewerber gegebenenfalls aufgrund exilpolitischer Betätigung einen abschiebungsrechtlich relevanten Nachfluchtgrund schaffen, liegt grundsätzlich neben der Sache. Der Besonderheit selbstgeschaffener Nachfluchttatbestände wird nach der gesetzlichen Konzeption dadurch Rechnung getragen, daß eine durch den Asylbewerber selbst geschaffene Gefährdungssituation im Zusammenhang mit dem asylgrundrechtlichen Schutzanspruch aus Art. 16 a Abs. 1 GG unbeachtlich bleibt (vgl. BVerfGE 74, 51 = EZAR 200 Nr. 18).

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