Verwaltungsgerichtshof Baden-Wuerttemberg, Urteil vom 22 October 1996-13 S 3392/95

Verwaltungsgerichtshof Baden-Wuerttemberg, 22 Oct. 1996.

Leitsätze (nicht amtlich):

1.         Die Asylanerkennung erlischt nicht nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AsylVfG, wenn der Asylberechtigte staatenlos ist oder geworden ist.

2.         Die Asylanerkennung erlischt nicht unbedingt schon mit der Entgegennahme eines neuen oder verlängerten Reisepasses des Heimatstaats und mit Reisen in den Heimatstaat.

Aus den Gründen:

Nach § 43 Abs. 1 Nr. 4 AusIG kann eine Aufenthaltsgenehmigung widerrufen werden, wenn die Anerkennung als Asylberechtigter erlischt oder unwirksam wird. Die die vorliegende Widerrufsentscheidung tragende Annahme, die Asylberechtigung des Ast. sei nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylWG erloschen, begegnet bei summarischer Prüfung rechtlichen Bedenken. Denn es erscheint fraglich, ob die rechtlichen Voraussetzungen dieses Erlöschensgrunds im Falle des Ast. erfüllt sind.

Nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erlischt die Anerkennung als Asylberechtigter, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staats, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Diese Regelung sowie diejenigen in § 72 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylVfG zeichnen die Erlöschensbestimmungen in Art. 1 C GK nach (vgl. zu § 15 AsylVfG 1982 BVerwGE 89, 231 = EZAR 211 Nr. 3). Der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG setzt von seiten des Asylberechtigten die Annahme eines »Vorteils« durch den Heimatstaat voraus, insbesondere in Form der Paßerlangung oder - verlängerung, ferner die Freiwilligkeit dieser Annahme und darüber hinaus, daß die Vornahme der Handlung objektiv als eine solche Unterschutzstellung zu werten ist. Insoweit ist der Anwendungsbereich dieser Bestimmung im Lichte des Asylgrundrechts und bei vergleichender Betrachtung der GK dahin einzuschränken, daß nicht schon jeder Kontakt des anerkannten Asylberechtigten zu Behörden seines Heimatstaats zum Erlöschen seiner Asylanerkennung führt (vgl. BVerwGE 89, 231 = EZAR 211 Nr. 3).

Die Asylberechtigung erlischt vielmehr erst dann, wenn der Ausländer die rechtlichen Beziehungen zu seinem Heimatstaat dauerhaft wiederherstellt, weil er sich den diplomatischen Schutz gleichsam »auf Vorrat« sichert, ohne daß die Erledigung bestimmter administrativer Angelegenheiten ihn hierzu nötigt, oder weil er sich sonst »ohne Not« wieder in die schützende Hand des Heimatstaates begibt. Dabei ist mit der Unterschutzstellung nicht die Rückkehr in die Heimat, sondern vor allem die Inanspruchnahme der Auslandsvertretung des Landes der eigenen Staatsangehörigkeit gemeint. Entscheidend ist, ob aus dem Verhalten des Asylberechtigten auf eine veränderte Einstellung zum Heimatstaat geschlossen werden kann. Einer Paßausstellung und verlängerung, oder einer ähnlichen Handlung kommt dabei lediglich eine Indizwirkung dahin zu, daß sich der Betreffende wieder unter den Schutz seines Heimatstaats stellen will. Es kann jedoch der äußere Geschehensablauf dieser Indizwirkung entgegenstehen. Hierzu ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Lassen sich aus dem Verhalten des Asylberechtigten Anhaltspunkte dafür ableiten, daß mit der Paßverlängerung keine WiedererIangung des vollen diplomatischen Schutzes bezweckt war, so fehlt es an dieser weiteren subjektiven Voraussetzung für das Erlöschen der Asylberechtigung nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, EZAR 211 Nr. 3). So muß etwa selbst die Annahme oder Verlängerung eines Nationalpasses dann nicht zum Erlöschen der Asylberechtigung führen, wenn sie erforderlich ist, um Amtshandlungen von Behörden der BR Deutschland vornehmen zu lassen oder vorzubereiten. Ebenso verhält es sich, wenn der Ausländer seinen Paß verlängern läßt, um zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht kurzfristig in den verfolgenden Heimatstaat zurückzukehren (BVerwG, EZAR 211 Nr. 3).

Auf staatenlose Asylberechtigte findet § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG keine Anwendung. Das folgt aus dem klaren Wortlaut dieser Regelung, die eine Unterschutzstellung hinsichtlich des Staats der eigenen Staatsangehörigkeit voraussetzt. Bestätigt wird dies bei einem Vergleich mit Art. 1 C Nr. 1 GK, dem § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG unmittelbar nachgebildet ist. Denn auch Art. 1 C Nr. 1 GK bezieht sich - ebenso wie Art. 1 C Nr. 2, 3 und 5 GK nur auf einen Flüchtling, der im Besitz einer Staatsangehörigkeit ist. Für staatenlose Flüchtlinge gelten nach der GK nur die Erlöschensgründe der freiwilligen Rückkehr sowie Niederlassung im Verfolgerstaat und des Wegfalls der verfolgungsbegründenden Umständen nach Art. 1 C Nr. 4 und 6 GK (vgl. Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 1979, S.32, Erl. 118, 133 und 137). Da auch die Erlöschensgründe nach § 72 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AsylVIIG vom Besitz einer (wiedererlangten oder erworbenen) Staatsangehörigkeit ausgehen, kann die Anerkennung der Asylberechtigung eines staatenlosen Ausländers allenfalls durch Verzicht oder Rücknahme des Asylantrags nach § 72 Abs. 1 Nr. 4 AsylVfG erlöschen. Im übrigen kann sie unter den Voraussetzungen des § 73 AsylVfG widerrufen werden.

Ob die dargelegten Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG im Falle des Ast. erfüllt sind, erscheint nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht zweifelsfrei. Im vorliegenden Fall kommen zwei Ereignisse für die Erfüllung dieses Erlöschenstatbestands in Betracht. Dies ist zum einen die seitens des Ast. erfolgte Annahme eines am 30.6.1992 vom türkischen Generalkonsulat in S. ausgestellten und bis zum 30.12.1992 gültigen türkischen Reisepasses, mit dem der Ast. vom 8.7. bis zum 6.8.1992 in die Türkei gereist ist. Zum anderen sind dies die vom Ast. am 20.6. bzw. 21.6.1994 mit Wirkung bis zum 20.9.1994 bzw. bis zum 20.9.1995 erlangten Erneuerungen des Reisepasses, in dessen Besitz er sich in der Zeit vom 11.7. bis zum 17.9.1994 wiederum in der Türkei aufgehalten hat. Hinsichtlich beider Ereignisse ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand offen, ob die oben beschriebenen Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erfüllt sind. Insoweit bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen im Rechtsbehelfsverfahren.

Was die Neuausstellung des türkischen Reisepasses am 30.6.1992 und den anschließenden Aufenthalt des Ast. in der Türkei angeht, hat bereits das VG zutreffend ausgeführt, daß in diesem Vorgang aller Voraussicht nach keine Unterschutzstellung im oben dargelegten Sinne gesehen werden kann. Denn die Ausstellung des Reisepasses diente nach dem auch von der Agin. nicht bestrittenen - Verbringen des Ast. allein dem Zweck eines vorübergehenden Besuchs beim schwer erkrankten Vater des Ast., also zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht. Dementsprechend ist die Agin. nach Kenntnis der vom Ast. bei der Ausländerbehörde mündlich vorgetragenen Gründe für diese Paßausstellung und für den einmonatigen Aufenthalt in der Türkei zunächst auch nicht von einem Erlöschen der Asylberechtigung ausgegangen. Allerdings wird im Rechtsbehelfsverfahren insoweit gegebenenfalls noch dem seitens eines früheren Arbeitgebers des Ast. Anfang Juli 1992 gegenüber der Ausländerbehörde geäußerten Hinweis nachzugehen sein, wonach bekannt geworden sei, daß der Ast. für vier Wochen in die Türkei fahre, »um Verwandte zu besuchen und Urlaub zu machen«. Denn sollte der Ast. damals tatsächlich gegenüber Dritten - auch - die Absicht geäußert haben, in der Türkei einen Urlaub zu verbringen, könnte dies möglicherweise gegen die Glaubhaftigkeit seiner Behauptung sprechen, daß wesentlicher Zweck der Neuausstellung des Reisepasses der Besuch seines schwer erkrankten Vaters gewesen sei.

Hinsichtlich der Erneuerung des Reisepasses im Juli 1994 und des anschließenden zweimonatigen Aufenthalts des Ast. in der Türkei hält der Senat es anders als das VG ebenfalls nicht für zweifelsfrei, ob die Asylberechtigung erloschen ist. Insoweit ist bereits fraglich, ob der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG noch Anwendung finden konnte. Denn es gibt konkrete Anhaltspunkte dafür, daß der Ast. zu diesem Zeitpunkt staatenlos war. Wie aus der der Agin. vorliegenden Bestätigung des türkischen Generalkonsulats S. vom 26.2.1993 hervorgeht, soll der Ast. durch Beschluß Nr. 92/3629 des Ministerialrats vom 8.10.1992 auf der Grundlage von Art. 25-c des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (abgedruckt in Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Band IX, Stichwort »Türkei«), also wegen Nicht-Ableistung des Wehrdienstes, aus der türkischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen worden sein.

Hinweise darauf, daß das der Kopie zugrundeliegende Schriftstück des türkischen Generalkonsulats unecht oder daß die Kopie gefälscht sein könnte, gibt es nicht. Auch in dem im Beschwerdeverfahren vorgelegten Brief des Schwagers des Ast. teilt dieser mit, daß nach seinen Informationen der Ast. ausgebürgert und daß der Beschluß über die Ausbürgerung im Amtsblatt veröffentlicht worden sei.

Andererseits erscheint es aber auch nicht ausgeschlossen, daß der Ast. nach erfolgter Ausbürgerung auf Antrag (beim zustädigen Generalkonsulat, vgl. Art. 10 türk. StangG) wiedereingebürgert worden ist. Hierfür könnte die Erneuerung des Reisepasses durch das türkische Generalkonsulat in S. im Juni 1994 sprechen. Dies wird im Rechtsbehelfsverfahren - etwa durch Einholung von Auskünften des Auswärtigen Amts oder des türkischen Generalkonsulats S. - weiter aufzuklären sein. Dabei wird auch die Behauptung des Ast. auf ihre Glaubhaftigkeit zu überprüfen sein, er habe die Paßerneuerung im Juni 1994 nur deshalb erhalten können, weil er Bekannten an einflußreicher Stelle im Innenministerium in Ankara und im Generalkonsulat S. wahrheitswidrig erzählt habe, daß er für immer in die Türkei zurück wolle (vgl. die entsprechenden Angaben des Ast. bei der Ausländerbehörde am 29.9.1995 und im vorliegenden Beschwerdeverfahren). Sollte sich bei den Ermittlungen herausstellen, daß der Ast. nach wirksamer Ausbürgerung auf eigenen Antrag wiedereingebürgert worden ist, würde dieser Umstand gegebenenfalls sogar einen zusätzlichen Erlöschensgrund für die Anerkennung der Asylberechtigung nach § 72 Abs. 1 Nr. 2 AsylVIIG darstellen.

Ungeachtet der Zweifel daran, ob der Erlöschenstatbestand des § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylvfG bezüglich des Ereignisses im Jahre 1994 Anwendung findet, erscheint es entgegen der Annahme des VG aber auch noch nicht hinreichend gesichert, ob die Erneuerungen des Reisepasses im Juni 1994 als Handlungen angesehen werden können, durch die der Ast. sich freiwillig im oben beschriebenen Sinne dem Schutz der Türkei unterstellt hat. Diese Erneuerungen des Reisepasses könnten möglicherweise ebenfalls zur Erfüllung einer sittlichen Pflicht erfolgt sein. Denn der Ast hat insoweit im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren substantiiert vorgetragen, er habe, nachdem Anfang 1993 sein Vater gestorben sei, auf Druck seiner Familie nochmals in die Türkei reisen müssen, um seiner Mutter bei der Ordnung des Nachlasses des Vaters zu helfen und um entsprechenden seiner muslitnischen Tradition das Grab des Vaters persönlich aufzubauen und herzurichten. Insoweit hat der Ast. im Beschwerdeverfahren zur Glaubhaftmachung noch eine Bescheinigung der Kurdischen Gemeinschaft R.-S.-K. vom 27.12.1995 vorgelegt, in der bestätigt wird, daß bei alevitischen Kurden das Grab eines Verstorbenen ein bis drei Jahre nach dem Tode aufgebaut werde und daß dabei traditionsgemäß alle Familienangehörigen anwesend sein müßten. Der Umstand, daß der Ast. nach dem Inhalt des ausländerbehördlichen Aktenvermerks vom 29.9.1995 bei seiner Anhörung durch die Ausländerbehörde nichts von einer persönlichen Grabpflege während seines Türkei-Aufenthalts erwähnt haben soll, spricht zwar möglicherweise dagegen, daß dieser Gesichtspunkt von wesentlicher Bedeutung für die Paßemeuerung war. Es erscheint aber auch nicht ausgeschlossen, daß der Ast. bei dieser Gelegenheit keine vollständige Angaben gemacht hat, zumal er sich geweigert hat, die Anhörungsniederschrift ohne vorherige Rücksprache mit seinem Rechtsanwalt zu unterschreiben. Aber auch dann, wenn der Ast. die Paßerneuerung lediglich deshalb erwirkt hat, um seiner Mutter bei der Abwicklung von Nachlaßangelegenheiten zu helfen, könnte es sich um eine Handlung zur Erfüllung einer sittlichen - familiären - Pflicht gehandelt haben. Insoweit wird der Ast. im Rechtsbehelfsverfahren - entsprechend seiner Mitwirkungspflicht (vgl. § 70 Abs. 1 und 2 AusIG) - allerdings noch substantiiert und nachvollziehbar darzulegen haben, warum es im Hinblick auf die beabsichtigte Hilfe bei der Abwicklung von Nachlaßangelegenheiten oder bezüglich der Herrichtung des Grabes seines Vaters erforderlich war, den türkischen Reisepaß, nachdem dieser am 20.6.1994 bereits für drei Monate verlängert worden war, vor der Abreise in die Türkei am 21.6.1994 nochmals um ein weiteres Jahr - bis zum 30.9.1995 - zu verlängern. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, daß der Ast. zur Erfüllung der von ihm geltend gemachten familiären bzw. muslimischen Pflichten darauf angewiesen war, die Geltungsdauer des Reisepasses in diesem Umfang verlängern zu lassen. Sollte der Ast. insoweit eine plausible Erklärung schuldig bleiben, könnte dies entscheidend gegen die Glaubhaftigkeit seiner Angaben sprechen, die Paßerneuerung allein zum Zwecke der Erfüllung einer sittlichen Pflicht beantragt zu haben.

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