Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24. Oktober 1990-16 A 10244/90

Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen

24. Oktober 1990

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

In dem Verwaltungsrechtsstreit des syrischen Staatsangehörigen X

gegen

die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister des Innern in Bonn, dieser vertreten durch den Leiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Rothenburger Straße 29, 8502 Zirndorf,(Az.: 475-01151-86),

- Beklagte -

Beteiligter:

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten, Rothenburger Straße 29, 8502 Zirndorf,

wegen Anerkennung als Asylberechtigter

hat der 16. Senat

auf die mündliche Verhandlung vom 24. Oktober 1990

durch

den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht

Dr. Humborg,

den Richter am Oberverwaltungsgericht

Dr. Schlaf,

den Richter am Oberverwaltungsgericht

Büge,

die ehrenamtliche Richterin

Knappheide, Hausfrau,

die ehrenamtliche Richterin

Parbs, Hausfrau,

auf die Berufung des Klägers gegen das am 7. Mai 1990 verkündete Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 23. April 1990

für Recht erkannt:

Das angefochtene Urteil wird in der Sache 10 K 10619/88 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Februar 1988 verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in derselben Höhe Sicherheit leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 10. April 1965 in Kameahly geborene Kläger verließ am 29. Dezember 1985 über den Flughafen Beirut den Libanon. über Frankreich reiste er Anfang 1986 ins Bundesgebiet ein. Er war im Besitz eines libaneaischen Reisepasses, der am 20. September 1984 in Beirut ausgestellt worden war, auf den.Namen Georges Jean Ojeil laute und ein vom französischen Generalkonsulat in Beirut am 13. November 1985 ausgestelltes, bis 12. Mai 1986 gültiges Visum enthielt.

Mit Schriftsatz vom 7. Mai 1986 beantragte der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter mit folgender Begründung: Im Zeitraum 1977/78 sei er in seinem Heimatort in eine Auseinandersetzung mit Moslems geraten. Er habe dabei schwere Verletzungen durch Messerstiche erlitten und im Krankenhaus behandelt werden müssen. Er sei daraufhin in den Libanon ausgewandert, wo er sich nur wenige Jahre später den christlichen Jamal-Milizen angeschlossen habe. Diese hätten mehrfach Berührung mit syrischen Truppen gehabt, die besonders grausam gegen syrische Christen in den Reihen der Milizen vorgegangen seien und diese nach Syrien verschleppt hätten. Er sei für die Jamal-Milizen uninteressant und untragbar geworden. Er habe sich schwer verletzt, wobei auch die alten Verwundungen aus Syrien wieder aufgebrochen seien. Er sei als Kämpfer nicht mehr einsetzbar gewesen, weil ihm unter anderem eine Niere operativ entfernt worden sei. Unter solchen Umständen habe er im Libanon keine Existenzmöglichkeit mehr gehabt. Darüber hinaus sei er in Gefahr gewesen, ohne den Schutz seiner Organisation als illegal im Libanon lebender Ausländer ausgewiesen zu werden und in syrische Hände zu fallen.

Bei seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung durch das Bundesamt am 13. August 1987 trug der Kläger vor: Er habe sich in Syrien Anfang 1979 der Assyrischen Bewegung angeschlossen und an drei oder vier Versammlungen teilgenommen. Nach der letzten Veranstaltung sei er auf dem Heimweg von drei Beamten des Geheimdienstes überfallen, geschlagen und mit einem Messer verletzt worden. Nach einmonatiger ärztlicher Behandlung sei er mit dem Zug nach Aleppo und von dort mit dem Taxi nach Beirut gefahren. Dort sei er bis Dezember 1985 geblieben. Von 1980 ab sei er für vier Jahre und ein paar Monate einfacher Kämpfer bei der Kataib gewesen. Fr sei mehrmals verwundet worden. In Sabra und Shatila habe er im Jahre 1982 neun Tage lang gekämpft. Aus Angst vor dem Einmarsch der Syrer nach Ost-Beirut habe er den Libanon mit einem gefälschten libanesischen Paß und einem Visum für Frankreich verlassen. In Syrien würde man ihn für mindestens sieben Jahre einsperren, weil er dort seinen Militärdienst nicht geleistet habe und weil man ein Bild von ihm als Kataib-Angehörigen habe.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den Azylantrag mit Bescheid vom 8. Februar 1988 ab. Die dagegen erhobene Klage mit dem Antrag, den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Februar 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen,

hat das Verwaltungsgericht nach Anhörung des Klägers mit dem angefochtenen Urteil wegen Unbeachtlichkeit der geltend gemachten Nachfluchtgründe und anderweitigen Verfolgungsschutzes im Libanon abgewiesen. Im gleichen - insoweit rechtskräftigen - Urteil hat das Verwaltungsgericht unter dem Aktenzeichen 10 K 10621/88 der Asylklage des Vaters des Klägers unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft stattgegeben.

Der Kläger trägt zur Begründung seiner vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung vor: Angesichts seiner Jugend bei der ersten Ausreise aus Syrien sei es unerheblich, ob in-seinem Fall Vorfluchtgründe oder eine jedenfalls zum Ausdruck gekommene Vorüberzeugung anzunehmen seien. Jedenfalls drohe ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von syrischer Seite zukünftige Verfolgung sowohl im Libanon, wo entsprechende Razzien dauernd. durchgeführt würden, als auch in Syrien selbst. Dieser Verfolgung habe er sich zum Zeitpunkt seiner Flucht im Libanon nicht mehr entziehen können, da er überall syrische Kontrollen habe vergegenwärtigen müssen.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach - und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten 10 K 10619/88, 10 K 10620/88, 10 K 10621/88 und 10 K 10647/88 VG Minden und auf die Verwaltungsvorgängesvorgänge der Beklägten Bezucg genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 4 VwGO). Er hat Anspruch auf Gewährung politischen Asyls.

Politisch verfolgt im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist derjenige, der in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen erleidet, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, NVwZ 1990, 151 = DVBl 1990, 101 = InfAuslR 1990, 21). Eine die Zuerkennung des Asylrechts rechtfertigende begründete Befürchtung einer politischen Verfolgung ist dann gegeben, wenn dem Asylsuchenden für seine Person bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Fal les politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so daß ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren (BVerwG, Urteil vom 15,. März 1988 - 9 C 278.86 -, NVwZ 1988, 838 = DVBl 1988, 747 = DÖV 1988, 692 = InfAuslR 1988, 230). Diese Voraussetzungen sind in der Person des Klägers erfüllt.

Er besitzt unzweifelhaft die syrische Staatsangehörigkeit. Zwar hatte er bei seiner Einreise einen auf einen anderen Namen lautenden libanesischen Reisepaß bei sich. Daß er jedoch in Wahrheit syrischer Staatsbürger ist , ergibt sich einmal aus seinem syrischen Personalausweis vom 21. Dezember 1982 sowie daraus, daß sowohl seine Eltern als auch seine Geschwister über syrische Reisepässe verfügen und somit nachweislich syrische Staatsangehörige sind.

Der Senat glaubt dem Kläger, daß er ab 1980 mindestens drei Jahre lang den Kataib-Milizen im Libanon angehörte. Er hat sich vom Beginn seines Asylverfahrens an durchgehend auf seine militärischen Aktivitäten für die Kataib berufen, auch wenn seine diesbezüglichen Angaben in zeitlicher Hinsicht leicht differieren. Diesen Vortrag des Klägers,haben seine Eltern und sein Jüngerer Bruder in ihren eigenen Asylverfahren jeweils unabhängig voneinander bestätigt. Die Kataib-Zugehörigkeit des Klägers bezweifeln ersichtlich auch die Beklagte und der Bundesbeauftragte nicht mehr. Denn sie haben die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Asylanerkennung des Vaters nicht mit der (zugelassenen) Berufung angefochten. Das Verwaltungsgericht hat aber dessen politische Verfolgung unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft gerade in bezug auf die Tätigkeit des Klägers für die Kataib-Milizen im Libanon angenommen.

Der Senat vermag allerdings nicht festzustellen, daß der Kläger als christlicher Milizionär im Libanon mit regulären syrischen Verbänden in Berührung gekommen ist. Er hat in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts vom 2. August 1989 selbst eingeräumt, er sei sich "nicht hundertprozentig sicher", daß er im Libanon gegen Syrer gekämpft habe. Ungeachtet dessen muß er aufgrund seiner Tätigkeit für die Kataib mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Syrien mit Verfolgungsmaßnahmen der dortigen Stellen rechnen, die nach Art und Ausmaß asylerheblich sind. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, aao). So liegt es hier.

Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach von 3. Februar 1989 drohen einem syrischen Staatsangehörigen, der im Libanon aktives Mitglied der Kataib gewesen ist, in Syrien Maßnahmen der dortigen Sicherheitskräfte. Es wird für glaubhaft erachtet, daß eine solche Person in Syrien von einem der Geheimdienste beobachtet, befragt, inhaftiert und in der Haft mißhandelt wird. In sachlicher Übereinstimmung hiermit stehen Aussagen in den Lageberichten Syrien des Auswärtigen Amtes vom 10. Oktober 1988, 18. August 1989 und 25. Mai 1990. Dort. wird festgestellt, daß jede politische Opposition unnachgiebig verfolgt wird und das besondere Augenmerk der Verfolgungsorgane dabei unter anderem Aktivitäten zugunsten antisyrischer Milizen im Libanon wie z. B. der Kataib gilt, auch wenn das Verhältnis des syrischen Staates gegenüber dieser Organisation ebenso wie gegenüber dem Arafatflügel der PLO in hohem Maße politischen Wetterschwankungen unterworfen ist.

Eine im Kern ähnliche Aussage wie den zitierten Auskünften des Auswärtigen Amtes läßt sich der Stellungnahme von amnesty international gegenüber dem Verwaltungsgericht Ansbach vom , 2. Juni 1989 entnehmen. Daniach hat jeder syrische Staatsangehörige, der verdächtigt wird, in Verbindung zur Kataib im Libanon zu stehen, mit Verfolgungsmaßnahmen durch die syrischen Behörden zu rechnen. Art und Umfang der zu erwartenden Verfolgungsmaßnahmen wird im einzelnen vom Grad der Verbindung und der Form der Zusammenarbeit mit den christlichen Milizen abhängig gemacht. Dabei wird auf die den syrischen Sicherheitskräften zur Verfügung stehenden weitreichenden Befugnisse zu willkürlicher Verhaftung. und Inhaftierung sowie darauf hingewiesen, daß Folterungen und Mißhandlungen in syrischen Gefängnissen und Haftzentren an der Tagesordnung sind.

Aus alledem ergibt sich nach Einschätzung des Senats, daß syrische Staatsangehörige, die wie der Kläger aktiv militärisch für die Kataib im Libanon tätig gewesen sind, mit erheblichen Verfolgungsmaßnahmen wie längeren Inhaftierungen und Verhören unter Mihandlungen rechnen müssen. Abweichendes wird nur dann anzunehmen sein, wann feststeht, daß der Betreffende mit seinen militärischen Aktivitäten syrische Interessen im Libanon nicht verletzt hat. Dies ist aber beim Kläger nicht der Fall. Vielmehr läßt sich seinem glaubhaften Vortrag entnehmen, daß er an Kämpfen gegen prosyrische Verbände der Schiiten und Palästinenser beteiligt war.

Es ist ferner davon auszugehen, daß die Aktivitäten des Klägers für die Kataib syrischen Stellen bekannt geworden sind. Dies ergibt sich aus den insoweit übereinstimmenden Angaben der Eltern des Klägers und seines jüngeren Bruders. Namentlich die Glaubwürdigkeit des - inzwischen asylberechtigten-Vaters stehen offenbar weder für die Beklagte noch für den Bundesbeauftragten in Zweifel.

Die zu erwartenden Verfolgungsmaßnahmen des syrischen Staates knüpfen an die politische überzeugung des Klägers an.

Maßstab für die Reaktion der syrischen Sicherhenitskräfte, deren Praxis durch willkürliche MenschenrechtsverIetzungen geprägt ist, ist die besondere politische Gefährlichkeit den Täters. Dies ergibt sich schon daraus, daß nach den zitierten Lageberichten des Auswärtigen Amtes Aktivitäten für die Kataib vom syrischen Staat auf ,eine Stufe gestiellt werden mit Tätigkeiten für andere Organisationen, wie z. B. die Moslembruderschaft, nicht anerkannte kommunistische Parteien, den irakischen Flügel der Baath-Partei und den Arafatflügel innerhalb der PLO, die als politische Opposition unnachgiebig verfolgt werden.

Dem Kläger kann nicht entgegengehalten werden, daß Asyl nicht beanspruchen kann, wer im Heimatland unternommene terroristische Aktivitäten von der Bundesrepublik Deutschland aus in den hier möglichen Formen fortzuführen trachtet (vgl. BVerfG, Beschluß vom 20, Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 DVBl 1990, 472 = InfAuslR 1990, 122). Zum einen kann die kämpfende Tätigkeit in einer Miliz, die sich einer der im Libanon bestehenden religiösen bzw.ethnischen Gruppen verbunden fühlt, schwerlich als Terrorismus qualifiziert werden. Zum anderen ist nicht ersichtlich, daß der Kläger seine militanten Aktivitäten im Libanon nunmehr in der Bundesrepublik Deutschland fortführt. oder fortführen will.

Die Aktivitäten des Klägers für die Kataib im Libanon sind asylrechtlich beachtlichj-Ungeachtet des Umstandes, daß er jene Aktivitäten nach Verlassen des Heimatlandes ausgeübt hat, spricht manches dafür, sie wie Vorfluchtgründe zu bewerten. Denn bei einem christlichen Milizionär syrischer Staatsangehörigkeit, der im zum Teil von syrischen. Truppen besetzten Libanon prosyrischen Verbänden der Schiiten und Palästinenser entgegengetreten ist, kann schwerlich von einer "risikolosen Verfolgungsprovokation'' im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 26. November 1986-2 BvR 1058/85- (BVerfGE 74, 51 = DVBl 1987, 130 - NVwZ 1987, 311 = InfAuslR 1987, 56) gesprochen werden. Dies kann jedoch dahinstehen. Denn die Aktivitäten des Klägers erweisen sich auch dann als asylrechtlich beachtlich, wenn man von subjektiven Nachfluchtgründen ausgeht.

Bei selbstgeschaffenen Nachfluchttatbeständen kann eine Asylberechtigung in aller Regel nur,dann in Betracht gezogen werden, wenn sie sich als Ausdruck und Fortführung einer schon während des Aufenthalts im Heimatland vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellen (vgl. BverfG, aaO). Diese Anforderungen brauchen aber ausnahmsweise dann nicht erfüllt zu sein, wenn die Frage nach einer persönlichkeits und identitätsprägenden Lebenshaltung des Asylbewerbers vor seiner Ausreise aus dem Heimatstaat sich nach Lage des Falles nicht stellt, etwa weil der sich politisch gegen die Regierung seines Heimatstaates betätigende Ausländer bei seiner Ausreise zu jung war, als daß die Innehabung einer festen politischen überzeugung von ihm hätte erwartet werden können (vgl. BVerfG, Beschluß vom 20. Dezember 1989 -2 BvR 749/89 -). Ein solcher Fall liegt hier vor. Der kläger hat im Jahre 1979 sein Heimatland Syrien im Alter von 14 Jahren verlassen und von da an-von einem nur wenige Tage dauernden Aufenthalt in Syrien im April 1980 abgesehen-bis zu seiner Ausreise Ende 1985 im Libanon gelebt. Von einem 14-jährigen, also nahezu noch im Kindesalter befindlichen jungen Menschen kann aber nicht erwartet werden, daß er bereits über eine persönlichkeitsprägende politische überzeugung verfügt und diese nach außen betätigt. Der zuletzt zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ebenfalls zu entnehmen, daß eine. ausweglose Lage beim Verlassen des Heimatlandes für die Asylerheblichkeit von Nachfluchtgründen weder im allgemeinen vorgelegen haben muß noch ein solcher Grund in dem besonderen Fall gefordert werden darf, daß ein Asylbewerber nicht aus politischen Gründen außer Landes gegangen ist und,schon wegen seines Jugend lichen Alters zur Gewinnung und Bekuridung eiher politischen überzeugung noch nicht fähig war. Ferner kann entgegen der in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung der Beklagten für die Asylerheblichkeit exilpolitischer Aktivitäten nicht verlangt werden, daß deren Aufnahme durch eine Zwangslage geboten war. Dies hieße nämlich, die Anforderungen an die Beachtlichkeit einer derartigen Tätigkeit in einer Weise zu verschärfen, wie sie der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. November 1986 (aao) fremd ist. Insoweit genügt vielmehr die erkennbare Betätigung einer politischen überzeugung im Heimatland, ohne daß zugleich nach einer Zwangslage bezüglich einer Fortsetzung jener Tätigkeit im Aufnahmeland gefragt wird; eine solche wäre auch in den seltensten Fällen gegeben. Kann aber hier aufgrund des jugendlichen Alters. des Klägers beim Verlassen des Heimatlandes auf Vorfluchtaktivitäten überhaupt verzichtet werden, so sind seine Aktivitäten für die Kataib im Libanon unabhängig davon als asylrechtlich beachtlich einzustufen, ob seinem Vortrag auch insoweit gefolgt werden kann, als er in Syrien für die Assyrigche Bewegung aktiv gewesen sein will.

Dem Asylanspruch des Klägers steht § 2 Abs. 1 AsylVfG nicht entgegen. Er war im Libanon nicht vor Verfolgung sicher. § 2 Abs. 1 AsylVfG kann dem Asylbewerber nicht entgegengehalten werden, wenn er im Drittland vor seiner politischen überzeugung geltenden übergriffen des Verfolgerstaates wie z. B. einer Verschlpppung nicht sicher war (vgl. GK-AsylVfG, Stand: Februar 1990, § 2 Rn. 48). Ein lückenloser Schutz vor derartigen übergriffen muß freilich nicht gewährleistet gewesen sein. Denn ebensowenig wie die Bundesrepublik Deutschland in der Lage ist, einem Asylberechtigten totalen Schutz vor etwaigen Anschlägen zu gewähren, kann dies auch für Drittstaaten geforderten werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1988 -9 C 12.88 -, BVerwGE 79, 347 = DVBl 1988, 1028 = NVwZ 1988, 1136.= InfAuslR 1988, 297). Dem Jahresbericht 1988 von amnesty international (S. 510 ff.) ist indes zu entnehmen, daß die Gefahr für den Kläger, im Libanon von syrischen Streitkräften oder Geheimdiensten festgenommen und in ein syrisches Gefängnis überführt zu werden, keineswegs eine nur fernliegende Möglichkeit war.

Amnesty international zugegangenen Berichten zufolge wurden Hunderte von Personen im Dezember 1986 und Januar 1987 im nördlichen Libanon durch syrische Streitkräfte festgenommen, nach Syrien deportiert und dort inhaftiert. In der ersten Jahreshälfte 1987 wurde über umfangreiche Verhaftungen und über das "Verschwinden'' zahlreicher Personen im Anschluß an den Einmarsch der syrischen Truppen in Westbeirut berichtet. Vermutlich befanden sich unter den Inhaftierten Personen, denen man Verbindungen zu verschiedenen Milizgruppen unterstellte. Im Oktober und November 1987 sollen mehr als 200 Personen in Tripoli inhaftiert worden sein, die unter dem Verdacht standen, an Aktionen beteiligt gewesen zu sein, die gegen syrische Stellungen gerichtet waren. Auch im Jahresbericht 1989 (Seite 564) erwähnt amnesty international Personen, die im Libanon festgenommen und in syrische Gefängnisse überführt worden waren. Im Jahresbericht 1990 (s. 450 f.) gibt amnesty international schließlich Berichte wieder, wonach syrische Streitkräfte im April 1989 in Westbeirut und Zahle mehrere Personen festgenommen haben, die sie der Kooperation mit den überwiegend christlichen Milizen von General Michel Aoun verdächtigten; auch ist von Verhaftungen zahlreicher Mitglieder anderer Organisationen im Libanon durch syrische Sicherheitskräfte oder mit diesen kooperierende Milizen die Redeg.Aus alledem entnimmt der Senat, daß die syrischen Sicherheitskräfte im Libanon bestrebt sind, Angehörige antisyrischer Milizem in ihren Gewahrsam zu bringen. Daß hiervon insbesondere auch Kataibangehörige syrischer Staatsbürgerschaft betroffen sind, liegt nach den oben getroffenen Feststellungen zur Gefährdung dieses Personenkreises in Syrien auf der Hand. Seine Sicherheit vor Festnahme durch syrische Sicherheitskräfte konnte der Kläger zwar dadurch erhöhen, daß er im Ostteil von Beirut ausharrte, der von den christlichen Milizen kontrolliert wurde. Angesichte der wechselnden Fronten und Interessenkonstellationen im Libanon blieb das Risiko einer Verschleppung gleichwohl erheblich.

Schließlich greift die Vermutungsregel des § 2 Abs. 2 AsylVfG nicht zu Lasten des Klägers ein, da nach dem.Vorstehenden seine zwangsweise Verbringung nach Syrien nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen war. Zwar bezieht sich die in Satz 2 der Vorschrift dem Asylbewerber eingeräumte Möglichkeite die Vermutung des Satzes 1 zu widerlegen, dem Wortlaut nach nur auf die Abschiebung in den Verfolgerstaat, der durch den Drittstaat erfolgt. Nach Sinn und Zweck muß aber Entsprechendes gelten, soweit Verschleppungsaktionen auf dem Territorium des Drittstaats durch den Verfolgerstaat selbst erfolgen (vgl. auch für den Fall der mittelbaren (= "Ketten"-) Abschiebung in den Verfolgerstaat GK-AsylVfG, aaO, Rn. 103).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Volletreckbarkeit ergibt sich § 167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Der Senat läßt die Revision nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Rechtsmittelbelehrung

Die Nichtzulassung der Revision kann innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule (S 67 Abs. 1 VwGO) beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 4400 Münster, durch eine noch innerhalb derselben Frist zu begründende Beschwerde angefochten werden (§ 132 VwGO).

Auch ohne Zulassung kann unter den Voraussetzungen des § 133 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung den Urteils durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule bei demselben Gericht Revision eingelegt werden, die spätestens innerhalb eines weiteren Monats zu begründen ist (§ 139 VwGO).

Dr.Humborg

Dr. Schlaf

Büge

Beschluß

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 6.000, -- DM festgesetzt,

Gründe:

Die Entscheidung beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.

Dr.Humborg

Dr. Schlaf

Büge

 

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