Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20.10.1992 - BverwG 9 C 77.91

Bundesverwaltungsgericht

Urteil vom 20.10.1992 - BverwG 9 C 77.91

Leitsatz des Gericbts:

Das Revisionsgericht darf einen nach Erlaß der Berufungsentscheidung eingetretenen offenkundigen Wegfall der verfolgungsbegründenden Machtverhältnisse im Herkunftsland des Asylbewerbers (hier die Entmachtung des kommunistischen Regimes in Afghanistan im April 1992) berücksichtigen.

Sachverbalt: Die Klägerin ist afghanische Staatsangehörige. Sie reiste 1986 mit ihrer Familie auf dem Luftweg aus Pakistan kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und suchte alsbald um politisches Asyl nach, im wesentlichen mit der Begründung, die in Opposition zum kommunistischen Regime Afghanistans stehende Familie sei vor den Nachstellungen des Regimes im August 1984 nach Pakistan geflohen und von dort im August 1986 nach Deutschland gereist. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 1. April 1987 ab. Die hiergegen erhobene Verpflichtungsklage hatte beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Auch die Berufung der Klägerin wurde durch den Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 18.7.1991 zurückgewiesen. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

»Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Die Auffassung des Berufungsgerichts, daß ihr Asylbegehren unbegründet sei, steht schon deshalb mit Bundesrecht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), weil der Klägerin die geltend gemachte politische Verfolgung bei der Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr droht.

Das Berufungsgericht ist in dem für seine Entscheidung maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt Mitte 1991 davon ausgegangen, daß die Klägerin vom afghanischen Regime wegen ihrer Zugehörigkeit zu oppositionellen Kreisen, wegen des illegalen Auslandsaufenthalts und der Asylantragstellung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG als politische Gegnerin verfolgt werden würde, daß ihrer Asylanerkennung jedoch der anderweitige Verfolgungsschutz in Pakistan entgegenstehe. Inzwischen ist die tatsächliche Basis für diese Prognose entfallen, denn nach der Sturz der ehemaligen kommunistischen Regierung in Kabul im April 1992 bilden frühere Widerstandsgruppen, als deren Anhängerin die Klägerin sich gefährdet sah, die Regierung.

Diese grundlegende Veränderung der innenpolitischen Lage in der Heimat der Klägerin darf der Senat als allgemeinkundige Tatsache bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Allerdings eröffnen Änderungen des entscheidungserheblichen Sachverhalts nach Erlaß der letzten tatsachengerichtlichen Entscheidung dem Revisionsgericht grundsätzlich nicht die Möglichkeit, solche Umstände bei seiner Entscheidung zu verwerten. Hierbei ist, wie der Senat im Urteil vom 28. Februar 1984 - BVerwG 9 C 981.81 - (Buchholz 402.25 § 1 AslyVfG Nr. 19 = InfAusIR 1985, 22) dargelegt hat, davon auszugehen, daß das Bundesverwaltungsgericht - abgesehen von Fällen begründeter Verfahrensrügen - entsprechend seiner vornehmlich auf die Rechtsprüfung beschränkten Aufgabenstellung nach § 137 Abs. 2 VwGO an die vom Tatsachengericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden ist. Diese das Rechtsmittel der Revision kennzeichnende Beschränkung führt dazu, daß das Revisionsgericht den Streitfall nicht im gleichen Umfang wie das Berufungsgericht prüft, sondern anders als das Berufungsgericht (§ 128 VwGO) neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel außer Betracht läßt. Aus diesem Grund hat der Senat eine Zurückverweisung der Sache wegen nachträglicher Veränderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts als grundsätzlich ausgeschlossen angesehen (Urteil vom 28. Februar 1984, a.a.O.), auch um damit der Gefahr einer >Endlosigkeit des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vorzubeugen und zu verhindern, daß einer in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstandenden Berufungsentscheidung nachträglich die Grundlage entzogen wird.

Von diesem Grundsatz der Unbeachtlichkeit neuer Tatsachen im Revisionsverfahren sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - stellenweise nur scheinbare - Ausnahmen zugelassen. Das gilt zum Beispiel für die Berücksichtigung neu vorgebrachter Tatsachen im Zusammenhang mit einer während des Revisionsverfahrens eingetretenen Gesetzesänderung (vgl. Urteil vom 23. Januar 1981 - BVerwG 4 C 82.77 - Buchholz 406.11 § 35 BBauG Nr. 176) sowie der Berücksichtigung des Zeitablaufs beim wehrdienstrechtlichen Zurückstellungsgrund der weitgehenden Förderung eines Ausbildungsabschnitts (vgl. Urteil vom 28. Januar 1971 - BVerwG 8 C 90.70 BVerwGE 3 7,151). Im ersten Fall ist die Beachtlichkeit des neuen Vorbringens lediglich Folge des andernfalls nicht zu verwirklichenden Grundsatzes, daß eine nach der Berufungsentscheidung erfolgte Änderung der Rechtslage auch im Revisionsverfahren zu beachten ist. Im zweiten Fall handelt es sich um die Berücksichtigung eines Zustands, der nach dem von der Vorinstanz festgestellten Beginn des Ausbildungsabschnitts zwangsläufig durch den Zeitablauf eingetreten ist. Soweit es sich um eine echte Ausnahme handelt, betreffen die Entscheidungen besonders gelagerte Ausnahmefälle, in denen eine Nichtberücksichtigung neuen Vorbringens mit der Prozeßökonomie in so hohem Maße unvereinbar wäre, daß ihr der Vorrang vor dem Grundsatz der Unbeachtlichkeit neuer Tatsachen im Revisionsverfahren eingeräumt werden muß. Das kann der Fall sein, wenn ein nachträglich eingetretener oder nicht festgestellter einzelner Umstand völlig unstreitig ist, wenn sich bestimmte, nach Erlaß der angefochtenen Entscheidung vorgenommene Prozeßhandlungen des Klägers in einem vorgreiflichen Verfahren aus den beigezogenen Akten dieses Verfahrens ergeben, wenn sich aus den von der Vorinstanz in Bezug genommenen Beiakten ohne weiteres lediglich ergänzende Feststellungen treffen lassen oder schließlich unter bestimmten Voraussetzungen, wenn der neue Umstand eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 153 VwGO in Verbindung mit § 580 ZPO begründet haben würde (vgl. hierzu Urteile vom 27. März 1980 BVerwG 3 C 42.79 - Buchholz 427.6 § 4 BFG Nr. 31, vom 30. Mai 1978 BVerwG 8 C 73.76 - Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 14, vom 16. Februar 1972 - BVerwG 5 C 3.71 Buchholz 427.3 § 273 LAG Nr. 20 - und vom 16. Juni 1960 - BVerwG 3 C 301.58 - Buchholz 310 § 137 VwGO Nr. 1). Diese Ausnahmefälle sind dadurch gekennzeichnet, daß die Berücksichtigung der neuen Umstände dem Revisionsgericht eine abschließende Entscheidung in der Sache selbst ermöglichte.

Von diesen Grundsätzen ausgehend hat sich der Senat bereits mehrfach auf dem Gebiet des Asylrechts mit solchen neuen Ereignissen beschäftigt, wie beispielsweise mit dem nach Abschluß des Berufungsrechtzuges erfolgten Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon und der damit verbundenen Zerschlagung der palästinensischen Infrastruktur in dem zitierten Urteil vom 28. Februar 1984 (a.a.O.). In einem anderen Fall hatten im Verlaufe des Revisionsverfahrens in Pakistan die regierende Pakistan Peoples Party im Herbst 1990 die Wahlen zur Nationalversammlung und Frau Bhutto ihr Amt als Premierministerin verloren (Urteil vom 30. Oktober 1990 - BVerwG 9 C 60.89 - BVerwGE 87,52 = InfAusIR 1991,140). In beiden Fällen hat der Senat die bezeichneten Ereignisse ebenso wie zuvor schon die Tatsache des Wahlsiegs der Kongreß-Partei bei den Parlamentswahlen des Jahres 1980 in Indien (Beschluß vom 11. Februar 1982 - BVerwG 9 B 429.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 36) - als allgemeinkundig (§ 291 ZPO) und damit unstreitig angesehen, so daß sie keines Beweises bedurften. Jedoch waren die Auswirkungen des Abzugs der PLO aus dem Libanon bzw. des Wahlsieges der Islami Jamhoori Ittehad in Pakistan auf die Asylbegehren der jeweiligen Kläger sowohl in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht offen, weshalb die nachträglichen Veränderungen des entscheidungserheblichen Sachverhalts im Revisionsrechtszug unberücksichtigt bleiben mußten.

Im Unterschied dazu müssen die Folgen der neuen Machtverhältnisse in Afghanistan für die Einschätzung der Verfolgungsgefährdung der Klägerin jedoch ebenfalls als offenkundig bezeichnet werden. Es kann nicht streitig sein, daß die Entmachtung der kommunistischen Regierung in Kabul der Furcht der Klägerin vor Übergriffen dieses Regimes den Boden entzogen hat. Diese jüngste Entwicklung in Afghanistan führt zu dem Schluß, daß die Klägerin derzeit und für die absehbare Zukunft bei einer Rückkehr keine vom afghanischen Staat ausgehende oder ihm zurechenbare politische Verfolgung befürchten muß. Die Übergangsregierung, die zur Zeit allein den afghanischen Staat repräsentiert und die mit Hilfe der ihr unterstellten Armee und der sie unterstützenden Mudschahedingruppen die Macht in Kabul und weiten Teilen des Landes ausübt, verfolgt nicht die Gegner des ehemaligen kommunistischen Regimes, wie es die Klägerin gewesen sein will, sondern sucht die Lage in Afghanistan so zu gestalten, daß gerade solche Afghanen, die vor den Kommunisten geflohen sind, wieder in die Heimat zurückkehren können. Für die ehemaligen Regimegegner wurde eine Amnestie verkündet. Entgegen den von der Revision geäußerten Zweifeln ist auch nichts dafür ersichtlich, daß der Regierung feindlich gesonnene Gruppen gerade in der Klägerin eine politische Gegnerin sehen und sie zielgerichtet verfolgen könnten. Soweit sich die Klägerin nunmehr dennoch auf die Möglichkeit einer Gefährdung durch rivalisierende Mudschahedingruppen berufen will, handelt es sich im übrigen um völlig andere Asylgründe, die mit den bisher geltend gemachten keinen Zusammenhang aufweisen. Für eine solche von Grund auf neue Prüfung, ob die Klägerin-bei einer Rückkehr nach Afghanistan politische Verfolgung zu gewärtigen hätte, muß sie sich auf den Verfahrensweg des Folgeantrags gemäß § 71 AsylVfG n. F. in Verbindung mit § 51 VwVfG verweisen lassen. Eine erneute Verfolgung der Klägerin durch ein kommunistisches Regime in Afghanistan wegen ihrer früheren gegnerischen Haltung ist für die Zukunft mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen. Trotz der Gegnerschaft einzelner Mudschahedingruppen untereinander ist allen in Afghanistan machtausübenden und um die Machtgewinnung ringenden Gruppen die Gegnerschaft zum Kommunismus und der Wille gemeinsam, die Erneuerung einer kommunistischen Herrschaft zu verhindern. Die bisherige Schutzmacht der Kommunisten in Afghanistan, die Sowjetunion, existiert nicht mehr, auch ihre Nachfolgestaaten lassen kein Interesse daran erkennen, auf die Wiedererrichtung einer kommunistischen Herrschaft in Afghanistan hinzuwirken. Im Hinblick auf diese im Laufe des Revisionsverfahrens eingetretene Umkehrung der politischen Verhältnisse in Afghanistan ist die Klägerin offensichtlich nicht mehr verfolgungsgefährdet.

Unter diesen Umständen ist das Bundesverwaltungsgericht in der Lage, die Revision der Klägerin bereits aus diesem Grunde wegen Wegfalls der als verfolgungsbegründend bezeichneten Umstände zurückzuweisen. Hierzu ist das Revisionsgericht aus Gründen der Prozeßökonomie auch gehalten, denn die Außerachtlassung der dem Berufungsgericht noch nicht bekannten jüngsten Zeitgeschichte in Afghanistan durch das Revisionsgericht hätte zur Folge, daß die Klägerin bei Verneinung der vom Berufungsgericht bejahten anderweitigen Verfolgungssicherheit in Pakistan als asylberechtigt anerkannt werden müßte. Das Bundesverwaltungsgericht würde das Bundesamt also zum Erlaß eines Verwaltungsakts verpflichten, den dieses gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG n. F. unverzüglich wegen Wegfalls der Anerkennungsvoraussetzungen zu widerrufen hätte.

Auf die Frage, ob einer Asylanerkennung der Klägerin auch - wie die Vorinstanzen meinen - ein anderweitig gefundener Verfolgungsschutz entgegensteht, kommt es nicht mehr an. Kommt eine Asylanerkennung der Klägerin wegen inzwischen weggefallener Verfolgungsgefahr nicht in Betracht, ist damit zugleich darüber befunden, daß in der Person der Klägerin auch die Voraussetzungen des § 51 AuslG nicht (mehr) vorliegen.«

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