Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 22.7.1993 - 2 BvR 1507-93, 1508/93

Bundesverfassungsgericht

Beschluß vom 22.7.1993 - 2 BvR 1507-93, 1508/93

Leitsatz der Redaktion:

Weiche inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die grundrechtliche Gewährleistung in Artikel 16a Abs. 3S. 2 in Verbindung mit Artikel 16a Abs. 1 Grundgesetz an die Prüfung eines Vorbringens zu stellen sind, mit dem aes einem sicheren Herkunftsstaat stammender Ausländer die Vermutung allgemeiner Verfolgungsfreiheit für sich entkräften will, läßt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären. Jedenfalls ergibt sich unmittelbar aus der Verfassung, daß der Ausländer die Möglichkeit haben muß, die Vermutung, er werde nicht verfolgt, für sich zu entkräften. Die Prüfung darf sich nicht darin erschöpfen, konkreten Behauptungen des Asylbewerbers allein mit dem Hinweis auf die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Ausländers, die keine Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung biete, zu begegnen.

Sachverhalt: Siehe Entscheidungsgründe; der Tenor des - unter Mit-wirkung der Richter Kruis, Winter und Sommer - gefaßten Beschlusses lautet: »Für die Dauer eines Monats wird angeordnet: Dem Grenzschutz an Frankfurt/Main wird untersagt, die Verfügungen vom 9. Juli 1993 - EA 3-3307-93-A und EA 3-3306-93 A - verfügten Einreiseverweigerungen zu vollziehen. Den Antragstellern ist die Einreise zu gestatten.

Aus den Gründen:

»I.         Die Antragsteller, ghanaische Staatsangehörige, landeten am 6. Juli 1993, von Lagos über London kommend, auf dem Flughafen Frankfurt/Main. Dort halten sie sich seither im Transitbereich des Flughafens auf. Sie beantragten - unabhängig voneinander - noch am selben Tag jeweils ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Nach Anhörung durch das Grenzschutzamt sowie durch die Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte letzteres die Asylanträge mit im wesentlichen gleichlautenden Bescheiden vom 9. Juli 1993 als offensichtlich unbegründet ab. Mit Verfügungen vom gleichen Tag sprach das Grenzschutzamt Frankfurt/Main gegenüber den Antragstellern eine Einreiseverweigerung aus. Gegen beide Bescheide haben die Antragsteller beim Verwaltungsgericht jeweils Klage erhoben und gleichzeitig gemäß § 18a Abs. 4 AsylVfG 1993 in Verbindung mit § 123 VwG0 die Gewährung von Eilrechtsschutz beantragt. Diese Anträge hat das Verwaltungsgericht mit nahezu gleichlautenden Beschlüssen vom 19. und 20. Juli 1993 abgelehnt.

Gegen die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts haben die Antragsteller am 21. Juli 1993 Verfassungsbeschwerde erhoben; gleichzeitig beantragen sie den Erlaß einstweiliger Anordnungen. Die Einreiseverweige-rungen sollen ab dem 23. Juli 1993 vollzogen werden.

Il.          Die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, über die gemeinsam entschieden werden kann, sind zulässig und begründet.

1.         Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muß das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 82, 54 (57); st. Rspr.).

2.         Die Verfassungsbeschwerden sind weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es läßt sich nicht ausschließen, daß das Verwaltungsgericht die Ablehnung des von den Antragstellern begehrten Eilrechtsschutzes auf eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. Art. 16a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 GG in der Fassung des Gesetzes vom 28. Juni 1993, BGBl. IS. 1002; vgl. dazu ferner § 29a Abs. 1 AsylVfG in der Fassung des Gesetzes vom 30. Juni 1993, BGBl. IS. 1062) nicht genügende Grundlage gestützt hat. Dabei geht der Senat davon aus, daß die von den Antragstellern vorgetragenen, gegen sie ergriffenen Maßnahmen in asylerheblicher Weise an ihre politische Überzeugung (vgl. BVerfGE 80, 315 333 ff.>) anknüpfen, wozu die angegriffenen Entscheidungen sich nicht näher verhalten.

Bei einem Ausländer, der aus einem sogenannten >sicheren Herkunftsstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG in Verbindung mit der Anlage II zu § 29a Abs. 2 AsylVfG stammt, wird vermutet, daß er nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. Welche inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die grundrechtliche Gewährleistung in Art. 16a Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 16a Abs. 1 GG an die Prüfung eines Vorbringens zu stellen sind, mit dem ein aus einem sicheren Herkunftsstaat stammender Ausländer die Vermutung allgemeiner Verfolgungsfreiheit für sich entkräften will, läßt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären (vgl. zum bisherigen Recht allgemein BVerfGE 76, 143 161 f.>). Jedenfalls ergibt sich aber unmittelbar aus der Verfassung, daß der Ausländer die Möglichkeit haben muß, die Vermutung, er werde nicht verfolgt, für sich zu entkräften. Dies hätte erfordert, daß das Vorbringen der Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, das sich nicht in einer pauschalen Gegendarstellung zur Situation in Ghana erschöpfte, sondern konkrete Behauptungen zum Vorgehen ghanaischer Behörden gegen die von den Antragstellern geschilderten Demonstrationen enthielt, von dem zur Überprüfung der Asylentscheidungen berufenen Verwaltungsgericht zur Kenntnis genommen und im einzelnen gewürdigt wird. Dieser Prüfung konnte sich jedenfalls das Verwaltungsgericht nicht allein mit dem Hinweis auf die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Ausländers, die keine Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung biete, entziehen. Die allgemeine Situation im Herkunftsstaat vermag lediglich die Vermutung der Verfolgungsfreiheit zu rechtfertigen, die die Antragsteller mit ihrem Vorbringen jedoch gerade entkräften wollen. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob das Bundesamt und - ihm folgend - das Verwaltungsgericht in den angegriffenen Beschlüssen dies hinreichend beachtet haben. Ihre Beurteilung, die Antragsteller hätten nicht glaubhaft gemacht, daß ihnen abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung drohe, wird nicht einzelfallbezogen erläutert; sie stützt sich - unausgesprochen - allein darauf, daß die geltend gemachte Verfolgungsgefahr wegen Teilnahme an Demonstrationen mit den allgemeinen Erkenntnissen über die Lage in Ghana sowie über das Stattfinden von Demonstrationen und eventuell an sie anknüpfender Strafverfolgung nicht übereinstimmten.

3.         Die danach gebotene Abwägung ergibt folgendes: Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiesen sich aber die von den Antragstellern mit ihren Verfassungsbeschwerden erhobenen Rügen als begründet, so entstünde den Antragstellern durch die Vollziehung der Einreiseverweigerung ein schwerer und nicht wieder gutzumachender Nachteil. Ergeht die einstweilige Anordnung und erwiesen sich die Verfassungsbeschwerden später als erfolglos, so wögen die damit verbundenen Nachteile - auch im Hinblick auf die anzuordnende Gestattung der Einreise der Antragsteller in die Bundesrepublik Deutschland - weniger schwer; Auswirkungen auf die Anwendung des neuen Asylverfahrensrechts in anderen Fällen sind nicht ersichtlich.

4.

a)         Wegen der besonderen Dringlichkeit, die sich aus der bevorstehenden Vollziehung der Einreiseverweigerungen ergibt, ergeht diese einstweilige Anordnung ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). Aus dem gleichen Grund liegen die Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG vor.

b)         Neben einer Aussetzung der Vollziehung der Einreiseverweigerungen ist auch die Gestattung der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland für die Antragsteller anzuordnen. Ein Verbleiben im Transitbereich für die Dauer der Gültigkeit der einstweiligen Anordnung ist für die Antragsteller unzumutbar. Dies ergibt sich aus der Wertung des Asylverfahrensgesetzes selbst. Nach den in § 18a AsylVfG 1993 festgelegten Verfahrensfristen beträgt der maximale Aufenthalt im Transitbereich 19 Tage. Da die Antragsteller am 6. Juli 1993 am Flughafen eingetroffen sind und sich seither im Transitbereich aufhalten, könnten sie danach dort ohnehin nur noch bis zum 25. Juli 1993 an der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gehindert werden.

5.         Die enstweilige Anordnung tritt spätestens nach einem Monat außer Kraft, wenn sie nicht durch den Senat bestätigt wird (§ 32 Abs. 6 Sätze 2 and 3 BVerfGG).«

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